Am Anfang eines neuen Tages
plötzlich genau, was sie wollte. „Hör mir mal zu, Roselle. Es ist keine Schande, gute, ehrliche Arbeit zu verrichten. Aber besser ist es, wenn ich in meinem Haus arbeite, für meinen eigenen Mann und meine Familie. Wenn ich mir den Garten da draußen und die Hühner ansehen kann und weiß, dass sie mir gehören. Wenn ich weiß, dass wir die Sahne und die Milch kriegen und nicht nur das, was übrig bleibt, wenn die Butter gemacht ist. Und das Beste daran ist, sich das alles mit einem guten, anständigen Mann aufzubauen, einem Mann, der einen wirklich liebt, und nicht irgendeinem blassen Kerl, den man geheiratet hat, weil er reich ist.“
Otis nahm ihre Hand. Seine Berührung fühlte sich warm und rau an. „Wir können dich nicht davon abhalten zu tun, was du willst, wenn du älter bist“, sagte er zu Roselle. „Aber im Moment geh bitte weiter zur Schule.“
„Denn auch wenn du einen reichen weißen Mann finden solltest, der dich heiratet“, sagte Lizzie, „wird er genau wissen, wer du bist, wenn du nicht lesen und schreiben kannst.“
„War mein echter Vater weiß?“
Zum zweiten Mal hätte Lizzie ihrer Tochter beinahe eine Ohrfeige versetzt. Otis’ ruhige Hand hielt sie zurück. „Das tut jetzt nichts zur Sache“, brachte sie heraus. „Du lernst erst mal alles, was sie dir in dieser Schule beibringen können, und irgendwann, wenn du damit fertig bist, erzähle ich dir von deinem Vater.“
„Versprochen?“
Lizzie schluckte einen Kloß der Angst hinunter, bevor sie antwortete. „Ja, ich verspreche es. Und jetzt hilf mir, den Tisch abzuräumen und das Geschirr abzuwaschen.“
Gerade als Lizzie sich erheben wollte, erklang die Glocke im Esszimmer. Sie ließ die Schultern hängen. Im Moment konnte sie Miz Eugenias Unsinn nicht ertragen, sie konnte es einfach nicht. „Geh du und sieh nach, was sie will“, sagte sie zu Roselle, „während ich den Hühnern die Reste gebe.“ Ein paar Minuten weg von allen anderen half Lizzie, sich zu beruhigen.
Als sie wieder hereinkam, kehrte Roselle gerade aus dem Esszimmer zurück, die Arme voll mit dreckigem Geschirr. „Ich hasse es, für Miz Eugenia zu arbeiten“, murrte sie. „Ich wünschte, ich könnte woanders Arbeit finden.“
Lizzie wusste genau, wie ihre Tochter sich fühlte. Und so sehr sie Roselles Hilfe hier auch brauchte, überlegte sie, dass es vielleicht für sie beide besser wäre, wenn Roselle eine Zeit lang für jemand anders arbeitete. Lizzie ging zur Spüle, wo ihre Tochter die Schüsseln auskratzte, und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern.
„Miz Eugenia hat mich heute gefragt, ob ich jemanden kenne, der für ihre Freundin Miz Blake arbeiten könnte. Soll ich ihr sagen, dass du jeden Tag nach der Schule für ein paar Stunden hinübergehst? Vielleicht kannst du so ein bisschen Geld verdienen.“
„Ich überlege es mir“, sagte Roselle achselzuckend.
Als das Tagwerk endlich getan war, zog Lizzie die Tür zum großen Haus hinter sich zu und ging mit ihrer Familie zu ihrer Hütte. An manchen Abenden unterhielten sie sich noch eine Weile, aber heute nicht. Alle waren zu erschöpft. Lizzie legte sich neben Otis und hielt ihn fest im Arm.
„Was sollen wir mit Roselle machen?“, flüsterte sie ihm in der Dunkelheit zu.
„Wir werden beten und dem lieben Gott vertrauen.“
„Ich habe Angst um sie.“
„Ich weiß. Ich auch. Aber Roselle kommt schon zurecht, Lizzie. Wir müssen nur noch ein bisschen länger hier arbeiten.“
Lizzie seufzte und beschloss, Geduld zu haben. Sie würde die Eier zu Küken heranwachsen lassen und irgendwann würden sie und Otis ein ganzes Hühnerhaus ihr Eigen nennen.
Kapitel 10
14. Mai 1865
Wenn jemand Josephine vor einer Woche gefragt hätte, was sie sich wünschte, hätte sie gesagt, dass sie dem ständigen Jammern ihrer Familie entfliehen wollte. Jetzt war ihr Wunsch Wirklichkeit geworden und sie bereute ihn zutiefst. In dem Augenblick, in dem sie am Sonntagmorgen aufwachte und die Tasche sah, die sie gepackt hatte und mit zu Mrs Blakes Haus nehmen sollte, wurde ihr bewusst, dass ihr Leben nur noch schlimmer geworden war. Josephine hätte lieber im Wald gelebt als unter demselben Dach wie Harrison Blake.
Seine Mutter tat ihr allerdings leid. Priscilla hatte all den Kummer, der sie getroffen hatte, nicht verdient. Josephine würde es nichts ausmachen, ihr bei den Arbeiten im Haushalt zu helfen, bis sie ein neues Dienstmädchen einstellen konnten, oder beim Pflanzen eines Küchengartens,
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