Am Anfang eines neuen Tages
Weißen läutete und unterbrach sie. Lizzie schloss die Augen und atmete langsam aus, um sich zu sammeln. Dann wandte sie sich ihrer Tochter zu. „Ich muss nachsehen, was die Missus will. Du gibst das restliche Essen auf Servierplatten und fängst dann an, die Bratpfannen zu spülen. Wir reden weiter, wenn dein Papa hier ist.“ Ausnahmsweise war Roselle so klug zu tun, was ihr aufgetragen worden war.
Lizzie eilte ins Esszimmer und da saßen sie alle mit ihren hübschen Tellern und ihrer weißen Tischdecke und den Servietten, genau wie früher. Es gab nichts zu essen außer dem, was Sklaven aßen, und davon gab es kaum genug, aber Miz Eugenia wollte trotzdem, dass es auf Silbertellern serviert wurde, als wäre Weihnachten.
„Bring uns bitte einen Krug Wasser“, sagte sie.
„Ja, Ma’am.“
Lizzie ging zurück in die Küche und trug Roselle auf, einen Krug zu finden, dann schickte sie Rufus und Jack hinaus, um Wasser zu pumpen. Otis erschien, während Lizzie von der Küche ins Esszimmer und wieder zurück lief, und sie sah, wie er sich draußen wusch. Wenn die Weißen mit Essen versorgt waren, würde Lizzie sich endlich mit ihrer eigenen Familie an den Küchentisch setzen können, auch wenn sie sofort aufspringen musste, wann immer diese Glocke läutete.
Kaum hatte Otis das Tischgebet gesprochen, da wandte sich Lizzie schon an ihn. „Willst du wissen, was Roselle heute gemacht hat? Sie und ihre Freundinnen sind nach dem Mittagessen losgezogen und nicht zur Schule zurückgegangen.“ Sie sah ihre Tochter an und hob den Zeigefinger. „Und jetzt sagst du uns besser, warum. Und ich hoffe für dich, dass du einen guten Grund hattest.“
Otis hob die Hand, um Lizzie zu beruhigen. Er hatte sie schon des Öfteren gewarnt, dass es nichts brachte, zu schimpfen und zu brüllen. Dann wurde Roselle nur genauso wütend wie Lizzie, wenn Miz Eugenia sie herumkommandierte und laut wurde. Bevor Roselle antworten konnte, fing Otis an, ganz ruhig mit ihr zu sprechen.
„Weißt du, was der Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Freien ist, Mädchen? Der Unterschied ist, dass ein Freier lesen und schreiben kann. Wenn du das lernst, kannst du irgendwann alles erreichen. Niemand wird dich jemals besitzen. Aber wenn du dumm bleibst, wirst du immer eine Sklavin bleiben.“
„Außerdem“, fügte Lizzie hinzu, „hättest du hören sollen, wie die Weißen gelacht und sich lustig gemacht haben, weil du zur Schule gehst. Sie glauben, du wirst nie etwas lernen. Willst du, dass sie recht behalten?“
„Vertrau deiner Mama und mir, Roselle. Wir wollen, dass du einmal all die Dinge hast, die wir nie hatten.“
Endlich blickte Roselle von ihrem Teller auf. „Ich weiß, dass du nicht mein Papa bist“, sagte sie zu Otis. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, als Mama und ich alleine waren, bevor du gekommen bist.“
Lizzie sprang auf, bereit, über den Tisch zu langen und ihr eine Ohrfeige zu geben. Warum musste Roselle das vor ihren Brüdern sagen und Otis’ Gefühle verletzen? „Jetzt ist er dein Papa und du tust gefälligst, was er sagt!“
Wieder hob Otis die Hand. „Dass du nicht mein Blut in den Adern hast, hindert mich nicht daran, dich zu lieben wie mein eigenes Kind, Roselle. Und jetzt sag deiner Mama und mir bitte, was heute wichtiger war als die Schule.“
Roselle zuckte mit den Schultern. „Nichts … Ich wollte nur weg, dahin, wo niemand mir sagt, was ich tun soll. Lulu und Corabelle und ich sind eigentlich nirgendwohin gegangen. Wir sind nur durch die Stadt gelaufen und haben überlegt, was wir gerne tun würden, jetzt, wo wir frei sind. Lulu sagt, meine Haut ist hell genug, und wenn ich irgendwohin gehe, wo mich keiner kennt, könnte ich einen reichen weißen Mann heiraten.“
Lizzies Haut kribbelte. „Ist das alles, was du im Leben erreichen willst? Einen weißen Mann zu heiraten?“
„Warum nicht? Das ist besser als das hier.“
„Das wollen die nutzlosen weißen Mädchen da drin auch“, sagte Lizzie und zeigte in Richtung Esszimmer. „Dann sag mir mal – nachdem du diesen reichen Mann geheiratet hast, was ist dann? Willst du dann den ganzen Tag herumsitzen und wie ein Huhn gackern?“
„Das ist besser, als dreckiges Wasser auszuleeren. Außerdem, was soll ich denn sonst machen?“
Das wusste Lizzie auch nicht. Sie war erst seit Kurzem frei und konnte bislang nur von einem anderen Leben träumen. Aber als sie Otis und ihre Söhne ansah, die zusammen um den Tisch saßen, wusste sie
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