Am Anfang eines neuen Tages
damit die Blakes etwas zu essen hatten. Es hatte Jo Spaß gemacht, Lizzie im Gemüsegarten zu helfen, und sie ging beinahe jeden Tag hinaus, wenn sie ihrer Mutter und Schwester entfliehen wollte. Die Abendstunden mit Mrs Blake zu verbringen, würde auch angenehm sein, da sie nicht annähernd so viel klagte wie Mutter oder ständig an Josephines Haltung oder Manieren herummäkelte. Aber wie sollte sie es aushalten, mit Harrison Blake zusammenzuleben? Schon ihn für eine Stunde zu besuchen, hatte sich angefühlt, als würde sie sich in die Höhle des Löwen begeben.
Josephine seufzte und stieg aus dem Bett, um sich für die Kirche fertig zu machen. Aus irgendeinem Grund dachte sie an den Yankee, den sie vor vier Tagen in ihrem Baumhaus entdeckt hatte. Was hatte er als das Geheimnis des Glücks bezeichnet? Dankbarkeit. „Wenn man sich die Zeit nimmt, für die kleinen Dinge dankbar zu sein, dann summieren sich diese kleinen Freuden und machen einen glücklich.“ Das konnte doch unmöglich stimmen, oder? Aber während Jo ihr Mieder zuknöpfte und ihren Rock überstreifte, erschien es ihr logisch, dass dankbar zu sein das Gegenteil von jammern war. Vielleicht sollte sie seinen Rat befolgen. Wenn Mutter sich darüber beschwerte, dass sie keinen Schinken hatten, würde Jo ihr sagen, sie solle dankbar sein, dass sie Eier hatten. Wenn ihre Schwester sich über ihre zerschlissenen Kleider beklagte, würde Jo ihr sagen, sie solle dankbar dafür sein, dass sie keine Lumpen tragen musste wie Lizzie.
Josephine zog die Vorhänge in ihrem Zimmer auf, um den Sonnenschein hereinzulassen, und sah, dass der Apfelbaum unten neben dem Gemüsegarten erblüht war. Dafür konnte sie auf jeden Fall dankbar sein. Nicht nur, weil sie in ein paar Monaten Äpfel haben würden, sondern weil der Baum so schön war wie eine Braut im Hochzeitskleid. Wer brauchte Spitze an den Kleidern, wenn gleich vor der Tür ein ganzer Baum in duftige Blüten gehüllt war? Vielleicht würde sie eine Handvoll Blüten pflücken und den Tisch damit schmücken.
Dann erinnerte Josephine sich daran, dass sie bei dem verbitterten, unzufriedenen Harrison Blake einziehen würde. Wie sollte sie dafür dankbar sein? Sie wandte sich vom Fenster ab und starrte ins Leere, während sie über eine Antwort nachdachte. Sie konnte dankbar dafür sein, dass er nicht mit ihr verwandte war, was bedeutete, dass sie ihn nicht wiedersehen musste, wenn ihre Arbeit dort beendet war. Und sie konnte sehr dankbar dafür sein, dass Harrison Blake nicht ihr Mann war! Bei dem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln. Vielleicht funktionierte Dankbarkeit ja doch.
„Warum grinst du so?“, fragte Mary. Sie gähnte und reckte die Arme, die dünn und blass waren wie frische Ranken.
„Nichts. Ich bin nur … dankbar“, sagte Jo mit einem Achselzucken.
„Mutter sagt, man darf nicht mit den Schultern zucken.“
„Mutter denkt zu sehr in Regeln.“ Konnte Josephine dafür vielleicht auch dankbar sein? Sie dachte einen Augenblick darüber nach und beschloss dann, dass das Befolgen der Regeln ihrer Mutter Kraft gegeben hatte – und ihre Stärke hatte die Familie in den Kriegsjahren am Leben erhalten. Also ja, vielleicht konnte sie auch für die Regeln ihrer Mutter dankbar sein. Sie rüttelte an den Füßen ihrer Schwester Mary und sagte: „Du stehst besser auf, sonst kommen wir zu spät zur Kirche.“ Dann setzte sie sich vor den Spiegel und bürstete ihre Haare.
Mary stieg aus dem Bett und seufzte bekümmert, als sie in ihren Kleiderschrank sah. „Ich habe nichts, was ich in die Kirche anziehen kann, außer demselben abgetragenen Kleid, das ich letzte Woche anhatte.“
„Du solltest dankbar dafür sein, dass die Kirche im Krieg nicht abgebrannt ist“, erwiderte Josephine. „Und dafür, dass wir ein Pferd und eine Kutsche haben, mit denen wir hinfahren können.“
„Wovon redest du denn da?“
„Egal. Ich kann es nicht erklären.“ Josephine drehte ihre Haare zu einem Knoten zusammen und steckte sie fest. Dann eilte sie nach unten, um einen Strauß Apfelblüten für ihren Frühstückstisch zu pflücken. Sie würde mit ihrer Familie in die Kirche gehen, um einen Streit mit ihrer Mutter zu vermeiden, aber sie würde die Stunde dort mit Tagträumen verbringen, nicht mit Gebeten. Zu beten hatte sich als Zeitverschwendung erwiesen.
Daniel brauchte so lange, um sich fertig zu machen, dass seinetwegen alle zu spät zum Gottesdienst kamen. Josephine hielt den Kopf gesenkt, während sie
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