Am Anfang war das Ende (German Edition)
den Ratten ist nichts zu sehen, und keiner von uns hat Lust, auf den Heuboden hinaufzuklettern, um nachzuschauen, ob sie dort sind. Dinah und ich drehen eine Runde durch den Garten, auf der Suche nach der Stelle, wo ich im Boden eingebrochen bin. Aber obwohl wir in dieselbe Richtung gehen, in die ich damals gerannt bin, sehe ich nirgends das geringste Anzeichen dafür, dass der Erboden irgendwo eingesunken ist.
Früher war hier wahrscheinlich Rasen. Aber inzwischen hat ein undefinierbarer brauner Matsch aus Erde und gelblichem Schlick das Gras ersetzt. Bei jedem Schritt gibt es blubbernde Geräusche. Eigentlich müsste mein Loch schon von weitem sichtbar sein. Doch das ist es nicht. Es ist nirgends zu sehen.
Auf gut Glück hebe ich einen Bretterrest hoch, der auf dem Boden liegt. Darunter befindet sich ein verzweigtes System aus winzigen Gängen. Ein kleines Insekt flitzt davon und verschwindet in einem von ihnen.
»Na, so was, eine Kellerassel!«, rufe ich aus.
Dinah erschauert und zuckt zurück. »Igitt!«, sagt sie.
»Aber das ist doch Leben!«, sage ich aufgeregt. »Fast das erste Lebendige, was wir hier gesehen haben. Bis auf Tüchtig und die Ratten natürlich.«
»Ich weiß«, sagt Dinah. »Aber ich kann nichts dafür, Kellerasseln liebe ich nun mal nicht besonders.«
»Solltest du aber«, sage ich. »Nachdem du die Menschen so wenig leiden kannst.«
Dann setze ich meine Suche im Garten fort.
»Komisch«, sage ich schließlich.
Dinah zuckt die Schultern. »Vielleicht bist du bloß gestolpert«, meint sie.
»Mmm«, sage ich.
Ich habe ihr nicht alles erzählt. Weder dass ich in einem tiefen unterirdischen Gang gelandet, noch dass ich Gun-Helen und Red Bull begegnet bin. Das würde sie mir sowieso nie glauben, und ehrlich gesagt, glaube ich es selbst kaum.
•
Die Kellerassel lässt mich an Oma denken, und zwar, weil ich keinen Menschen kenne, der so naturverbunden ist wie Oma. Als ich klein war, ging sie mit mir zum Blumenpflücken in den Wald und brachte mir die Namen der Blumen bei, die wir fanden.
»Das hier sind Schlüsselblumen«, sagte sie und bückte sich mühsam, um die Pflanze anzuschauen.
Ich machte es ihr nach und hockte mich neben sie.
»Spürst du ihren Duft?«, fragte sie und beugte sich noch weiter zu den gelben Blüten hinunter.
Ich steckte die Nase in den Blütenteppich und wurde von einem sommerlich süßen Atemhauch erfüllt. Einen so feinen Duft hatte ich noch nie wahrgenommen, und ich weiß noch, wie sehr ich mich darüber wunderte, dass etwas draußen im Wald so wundervoll riechen konnte. Etwas, was nicht von Menschen erfunden worden war.
Das war das letzte Frühjahr, in dem die Schlüsselblumen blühten. Im Jahr darauf gab es sie nicht mehr. Ich erinnere mich, wie traurig Oma deshalb wurde. Sie seufzte schwer und stand lange vor dem nackten Fleck Erde, wo sie gewachsen waren.
»Seit ich lebe, haben sie hier geblüht«, sagte sie. »Aber jetzt sind auch die verschwunden.«
»Aber der Löwenzahn ist noch da«, sagte ich in einem Versuch, sie aufzumuntern.
»Ja, da hast du recht, Judit«, sagte sie und lachte.
Der Löwenzahn war nämlich mehr oder weniger die einzige Wildblume, die es noch gab. Alle anderen waren verschwunden. Genau wie die Vögel. Von den Vögeln waren fast nur noch Schwäne übrig. So war es schon seit vielen Jahren, und ich staunte jedes Mal, wenn Oma davon erzählte, was es früher alles gegeben hatte. Kuckucke und Schwalben und Bachstelzen. Ich traute meinen Ohren kaum, wenn sie davon erzählte.
»Und dann gab es Maiglöckchen. Die waren voller schneeweißer kleiner Blüten und dufteten geradezu märchenhaft gut.«
»War ihr Duft noch besser als der von den Schlüsselblumen?«
Oma schüttelte den Kopf. »Nicht besser, aber vielleicht feiner. Die dufteten so vornehm. Dein Opa hat sie geliebt.«
Feiner als Schlüsselblumen – das konnte ich mir kaum vorstellen, und obwohl sie mir Bilder von Maiglöckchen zeigte, sagten sie mir eigentlich nichts.
Aber die Schlüsselblumen werde ich nie vergessen.
•
»Ich hab darüber nachgedacht. Über das, was du über den Abstand zwischen Paris und London gesagt hast, meine ich«, sagt Gabriel und kommt zu mir her.
»Ich auch«, sage ich.
»Weißt du noch, als wir ›In 80 Tagen um die Welt‹ gesehen haben?«
»Und als du gesagt hast, du würdest gern einen Film drehen, der ›In 80 Stunden um die Welt‹ heißt«, sage ich und muss bei der Erinnerung daran lächeln.
»Genau. Die Abstände
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