Am Anfang war das Wort
ihre Stimme klang erstickt. »Hat Arie Klein es Ihnen erzählt? «
Michael lächelte traurig. »Er hat es mir nicht mehr erzählen müssen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte sie, aber er konnte ihre Tränen sehen, bevor sie den Kopf senkte.
»Ich weiß, daß es Jahre her ist, aber solche Demütigungen kann man bestimmt schwer vergessen.«
Sie schwieg.
»Ich verstehe auch«, fuhr Michael fort und wählte sorgfältig jedes Wort, »Ihr Unglück über die Tatsache, das Sie infolge der damaligen Ereignisse keine Kinder bekommen können.«
Sie hob den Kopf. »Woher können Sie solche Dinge wissen?« fragte sie erschrocken. Ihre Lippen verzogen sich.
»Ich versuche mir vorzustellen, wie Sie sich gefühlt haben. Der Kummer und vor allem die Demütigung. Sie sind nicht der einzige Mensch, den Scha'ul Tirosch gedemütigt hat, falls Ihnen das Erleichterung bringt.«
Sie antwortete nicht. Ihr weißes Gesicht war ihm zugewandt. Er las in ihm Angst und eine schreckliche Wut. Sie bewegte sich nicht, sie schaute ihn nur an.
»Ich kann mir ein Gespräch zwischen Ihnen vorstellen. Er hat Sie auf seine beherrschte, kultivierte Art gedemütigt, vielleicht haben Sie ihm sogar von der gynäkologischen Behandlung erzählt, der Sie sich unterziehen mußten, und er, wie immer, reagierte zynisch. Was hat er Ihnen gesagt? Daß es ohnehin nicht zu Ihnen passe, Mutter zu werden? Daß Sie ohnehin keine richtige Frau sind? Was hat er gesagt, was Sie dazu gebracht hat, auf ihn einzuschlagen, zu wünschen, daß er stirbt?«
Sie erhob sich und rannte zur Tür. Michael gelang es, sie zurückzuhalten, als sie die Hand schon auf der Klinke hatte. Er löste ihre Hand, Finger um Finger, packte ihren dünnen Arm mit festem Griff, führte sie zum Stuhl zurück und drückte sie darauf. Ich habe mich nicht geirrt, dachte Michael und gestattete sich für einen Moment das Gefühl des Triumphs, bevor er weitersprach.
Sie saß schlaff da, als habe sie jeden eigenen Willen verloren. Er wußte, daß er sich nicht mehr lange bemühen mußte.
»Was hat er zu Ihnen gesagt? Es ist sinnlos, von hier wegzulaufen, das wissen Sie auch. Was hat er Ihnen gesagt, als Sie in seinem Zimmer waren, das Sie so wütend machte, daß Sie mit der Statue auf ihn losschlugen?« Er überlegte, ob er an dieser Stelle etwas über Totschlag im Gegensatz zu geplantem Mord sagen sollte. Er entschied sich, es nicht zu tun.
»Es war schrecklich, wie er stürzte, und es war schrecklich, ihn so zurücklassen«, stellte er fest, als wäre er dabeigewesen.
Sie blickte ihn an, schüttelte den Kopf und zog schließlich aus ihrer kleinen Ledertasche, die über der Stuhllehne hing, ein besticktes Taschentuch und putzte sich geräuschlos die Nase. Es war viele Jahre her, daß Michael eine Frau gesehen hatte, die sich mit einem bestickten Taschentuch wie ein braves Mädchen die Nase putzte.
Er wollte gerade die Frage wiederholen, da sagte sie noch leiser als sonst, sie habe ihn nicht geschlagen.
»Aber Sie waren in seinem Zimmer«, stellte Michael fest. »Ja, aber nur am Donnerstag.«
»Und Sie haben mit ihm gestritten.«
Sie nickte.
»Um was ging der Streit?«
»Um etwas Persönliches.«
»Persönlicher als die Tatsache, daß Sie keine Kinder mehr bekommen können?«
»Ja. In meinen Augen ja«, sagte sie. Außerdem habe sie Scha'ul nie davon erzählt.
Was könnte in ihren Augen persönlicher sein als eine gynäkologische Behandlung, überlegte Michael fieberhaft, als hinge sein Leben davon ab, daß er das herausbekam. Er dachte an ihr Leben, an ihre Arbeit an der Fakultät, an ihre gesellschaftliche Zurückhaltung, die ihr sogar Fahrten mit dem Autobus verbot, auch an ihre Genügsamkeit beim Essen, das aus Joghurt und Obst bestand, er dachte an ihre eintönige Garderobe, die sich nicht mit den Jahreszeiten farblich veränderte, und an die Informationen über eine frühere psychiatrische Behandlung, die von Balilati stammte – viermal in der Woche, hatte Balilati gesagt, und mit dem Taxi hin und zurück –, und an ihre Einsamkeit. Vor allem an ihre Einsamkeit. Du verlierst den Rhythmus, dachte er, fühle dich in sie ein. Frage dich nicht, was nach ihren Maßstäben persönlicher ist, frage, was für sie persönlich ist.
Mit einer schnellen Bewegung zog er die schwarze Mappe aus der Schreibtischschublade.
»Ich nehme an, daß er Ihnen die größte Verletzung durch seine Reaktion auf das da zugefügt hat«, sagte er und hielt ihr die Gedichte hin.
Sie umklammerte
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