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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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die Mappe und sagte kein Wort.
    Ich habe sie gelesen. Sie sind schrecklich. Sie haben mich verwirrt, dachte Michael, aber laut sagte er: »War es seine Kritik an den Gedichten, die Sie so wütend gemacht hat, daß Sie auf ihn einschlugen? War es die Demütigung, die er Ihnen entgegengeschleudert hat, die Sie den Kopf verlieren ließ? «
    Sie weinte geräuschlos. Ein Weinen, das mir das Herz brechen sollte, dachte Michael. »Sie müssen mir antworten«, sagte er in scharfem Ton.
    Sie habe ihn nicht geschlagen, sagte sie. Sie sei am Donnerstag morgen bei ihm im Zimmer gewesen. Draußen habe Ruchama Schaj gewartet, er könne Ruchama ja fragen, wie sie ausgesehen habe, als sie aus Tiroschs Zimmer gerannt kam. Sie habe die Gedichte in seinem Zimmer gelassen, weil sie unfähig gewesen sei, ihn eine Sekunde länger anzusehen. Sie sei wie erstarrt gewesen, sagte sie. Noch nie habe sie sich gegen Verletzungen mit Gewalt wehren können, sie weiche solchen Situationen aus, und nie, wirklich noch nie, habe jemand sie so beleidigt wie Tirosch, als er über ihre Gedichte sprach. Er habe hinter seinem Schreibtisch gesessen und sich wirklich bemüht, freundlich zu sein, sagte sie, und das allein habe sie schon als Beleidigung empfunden. Noch nie habe sie die Gedichte irgend jemandem gezeigt, sagte sie unter Schluchzen, auch Klein nicht. Eigentlich habe sie erst im letzten Jahr angefangen zu schreiben, und sie habe einfach nicht gewußt, ob ihre Gedichte gut seien. Zuerst habe Tirosch versucht, rücksichtsvoll zu sein, aber er war nun einmal scharfsinnig und kritisch, selbst wenn er rücksichtsvoll sein wollte. Zum Schluß sagte er ungeduldig: »Du hast keine Zukunft. Du kannst nicht schreiben. Eine Frau braucht eine Gebärmutter, um schreiben zu können.« Sie hätte ihn vielleicht geschlagen, wenn sie Kraft gehabt hätte, so aber war ihr erster Impuls, aus dem Fenster ihres Zimmers im sechsten Stock zu springen.
    Michael ließ den Blick nicht von ihr. Er hörte jedes Wort und sah die Szene genau vor sich. Ein paarmal fragte er sich, ob er die Geschichte glaubte, die sie erzählte. Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. Sie sah völlig erschöpft aus. Zwei Fragen habe er noch, sagte er.
    Und wieder, wie ein Blitz, erschien Angst auf ihrem Gesicht.
    Ob Tirosch versucht habe, sie noch einmal zu verführen? »Ja«, antwortete sie. »Er hat es versucht, doch ich habe ihn abgewiesen. Er war wütend auf mich, aber es hat nicht lange angehalten.«
    Die zweite Frage war, ob sie den Satz »Auch wenn es nur wenig ist, was ich geben kann, so steht es für das, was ich geben müßte« erklären könne.
    »Was? Was soll ich erklären? Wovon sprechen Sie?« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, sie blickte ihn verständnislos an. »Ich verstehe die Frage nicht«, sagte sie schließlich.
    Nicht mehr »Was meinen Sie?«, dachte Michael. Jetzt ist sie ehrlich, als sei alles bereits gesagt. Oder vielleicht ist sie nicht ehrlich, vielleicht falle ich wieder einmal auf die Nase mit meiner Intuition.
    Zögernd sagte er: »Vielleicht wissen Sie etwas über das Testament, das Scha'ul Tirosch hinterlassen hat?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Was für ein Testament?« Sie zeigte keine Angst, nur Erstaunen.
    »Vielleicht hat er einmal mit Ihnen darüber gesprochen?«
    Sie sei nicht an Besitz interessiert, Geld sei ihr nicht wichtig, sagte sie.
    »Trotzdem: Taxen, Therapie, medizinische Behandlungen, Essen – wovon leben Sie? « fragte er und dachte an die feste Summe, die jeden Monat auf ihrem Bankkonto einging, auch etwas, was Balilati herausgefunden und bei einer der Sitzungen der Sonderkommission feierlich mitgeteilt hatte.
    Sie arbeite, sagte sie, und außerdem bekomme sie einen festen monatlichen Zuschuß von ihren Eltern.
    »Aber«, wandte er vorsichtig ein, »soweit ich weiß, hat Ihr Vater 1976 Konkurs gemacht, und seit seiner letzten Herzattacke arbeitet er nicht mehr.«
    Sie schwieg, und er wartete. Einige Minuten vergingen, bevor er sagte: »Also wirklich, Sie haben heute schon schlimmere Dinge gesagt. Wenn Sie keine Beziehung zum Geld haben, dann dürfte es Ihnen doch nicht schwerfallen, darüber zu sprechen.« Es gelang ihm nicht, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen.
    Sie schluckte und erklärte dann verwirrt, daß die Wohnung auf ihren Namen laufe, daß es ihrem Vater gelungen sei, »vor dem Ruin« Geld nach Amerika zu schaffen, »eine große Summe, ich weiß nicht genau, wieviel, aber ich lebe von den Zinsen, und obwohl mein

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