Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
›großen‹ Werk.«
    Michael unterdrückte den Wunsch, ihn zu fragen, ob auch er, Klein, vergebliche Schaffensversuche hinter sich habe.
    »Im allgemeinen versucht man es, wenn man jünger ist, und oft stehen die Dinge zueinander in Kontrast: Je weiter das Verständnis des Forschers entwickelt ist, je weiter er sich in die Wissenschaft vertieft, um so schwerer wird es ihm fallen, etwas zu schaffen.«
    Michael schaute ihn schweigend an.
    »Und das ist es genau, was mich an Scha'ul so erstaunt hat. Die Kritikfähigkeit in der Kunst und seine literarische Kompetenz, das tiefe literarische Verständnis, das er hatte, neben der großen Dichtung, die er schuf. Was kann ein Mensch mehr von sich erwarten?« Mit traurigen Augen blickte Klein an Michael vorbei aus dem Fenster.
    »Was heißt das, es hat Sie erstaunt?«
    Klein spielte mit dem gelben Plastikbecher und schwieg. Ein paarmal machte er den Mund auf, und dann sagte er langsam: »Ich habe Scha'ul Tirosch über dreißig Jahre lang gekannt. Ein knappes Jahr haben wir zusammen in einer Wohnung gelebt, als wir Studenten waren. Zweifellos war er mir einige Jahre sehr nah.« Er senkte den Kopf und betrachtete seine Hände. » Sie müssen wissen, daß ich diese Dinge sage, gerade weil ich ihn mochte. Er hatte viel Charme, der Charme, den man bei Menschen findet, die die Welt als einen großen Spiegel betrachten, als unaufhörliche Bestätigung ihrer eigenen Existenz, und sich deshalb so bemühen, sie zu bezaubern. Und er besaß noch etwas. Trotz seines Auftretens, das, voller theatralischer Gesten war, hatte er die seltene Fähigkeit, sich selbst auch mit Ironie zu betrachten. Einmal, als wir beide noch jung waren, sagte er in meiner Anwesenheit zu sich selbst: ›Wir kennen dich, Scha'ul, mein Freund, du wirst ihr unter dem Fenster eine Serenade singen, um dich selbst zu beobachten, wie du unter ihrem Fenster eine Serenade singst.‹ Man darf auch nicht vergessen, wie interessant und klug er war und was für einen differenzierten Geschmack er hatte. Aber das war es nicht, was ich sagen wollte.« Er hielt inne und überlegte. »Worüber haben wir gesprochen? Ja, über diese wirklich einzigartige Kombination, auf der einen Seite ein erstklassiger Kritiker, ein Erforscher moderner Lyrik, mit einem hervorragenden Verständnis für Literatur, und zugleich ein großer Dichter. Ein Widerspruch in sich, meiner Meinung nach, vor allem wenn man auch an seinen Nihilismus denkt.«
    »Nihilismus?« wiederholte Michael das Wort nachdenklich.
    »Zum Beispiel die Frauen«, sagte Klein und schwieg.
    Michael wartete.
    »Normalerweise sagen alle, Scha'ul habe die Frauen geliebt. Das stimmt nicht. Nie habe ich die ... hm ... psychologischen Tiefen dieses Phänomens verstanden, aber ich bin ganz sicher, daß er die Frauen nicht liebte. Aber was soll ich sagen, über Don Juan ist schon viel geschrieben worden. Hier kann man jedoch noch nicht mal von einem Haß gegen Frauen sprechen. Ich würde es so formulieren: eine ständige Suche nach neuen Reizen, etwas Hungriges, Hunger nach Bestätigung, Bestätigung des eigenen Wertes. Es gab Momente voller Angst, der Angst, er existiere überhaupt nicht. Das Rätsel bei ihm ist die Schaffenskraft. Ich verstehe nicht, wie er vor dem Hintergrund des großen Nichts, der Negierung, große Werke schaffen konnte.«
    Dann fragte Michael, ob Klein jemals Tiroschs Testament gesehen habe.
    »Nein«, sagte Klein, »aber Ja'el hat mir auf dem Weg davon erzählt.«
    »Und was halten Sie davon?«
    »Nun ja, ich war erstaunt, natürlich, aber nicht lange. Mein zweiter Gedanke war, daß überhaupt nichts Überraschendes daran ist. Es fällt mir schwer zu glauben, Scha'ul habe irgendwelche Schuldgefühle Ja'el gegenüber gehabt, aber großartige Gesten kamen bei ihm vor, ein Ausbruch von Großzügigkeit, die manchmal peinlich war. Als unsere älteste Tochter geboren wurde, kaufte er für uns die Einrichtung des Kinderzimmers. Oder der Gedichtband von Natana'el Jaron, den er auf eigene Kosten drucken ließ, ich habe nie verstanden, warum.«
    Dann blickte er Michael an, als merke er nun, worauf dieser hinauswollte, und sagte vorsichtig: »Ich würde nichts anderes daraus schließen, wenn Sie mich fragen.«
    »Ich frage Sie.«
    Klein bewegte den Kopf wie zur Bestätigung. »Ihr wäre nie im Leben etwas eingefallen, was einem Mord auch nur andeutungsweise geglichen hätte. Wenn Sie einige Stunden an ihrem Leben teilgenommen hätten, ihrem Alltagsleben, dann wüßten Sie das

Weitere Kostenlose Bücher