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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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–, er sah es Pnina von der Spurensicherung an. Hinter ihr kam Zwika ins Zimmer, der Fotograf. Offenbar wollte er eine witzige Bemerkung machen, die jedoch auf seinen Lippen erstarb und sich in einen scharfen Pfiff verwandelte, während seine Hand an die Nase flog, um sie zuzuhalten.
    Als sie mit dem Ausmessen und Fotografieren fast fertig waren, befanden sich im Zimmer bereits alle »Funktionen«, wie Eli Bachar sie immer nannte: der Chef der Jerusalemer Kriminalpolizei, der Polizeipressesprecher, der Offizier der Staatsanwaltschaft. Alle waren sie hereingekommen und hatten die Leiche betrachtet. Tapfer ertrugen sie den Geruch, um »im Bild zu sein«, und Arie Levi, der Polizeichef, bemerkte, das habe es noch nie gegeben, einen Mord an der Universität. »Vielleicht waren es Terroristen, was meinen Sie, Ochajon?«
    Michael antwortete mit trockener Kehle: »Vielleicht«, und wartete ungeduldig darauf, daß die Leiche endlich aus dem Zimmer gebracht würde. Er fragte sich, ob dieser faule, süßliche Geruch je ganz aus diesem Raum verschwinden würde, einem Raum mit der schönsten Aussicht, die er sich vorstellen konnte. Er wußte, daß es Tage dauern würde, bis er den Geruch los würde, denn auch er würde ihn lange nicht aus der Nase bekommen. Schließlich hatte er den toten Mann einmal gekannt, hatte sich oft mit einem gewissen Neid an dessen gelassene Haltung während der Vorlesungen erinnert, an seine elegante Erscheinung.
    Die Beamten von der Spurensicherung nahmen Fingerabdrücke, und Michael schaute ihnen zu, während ihre Stimmen wie aus weiter Ferne zu ihm drangen. Er bemerkte den konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht Eli Bachars, hörte das Gemurmel des Pathologen, der schließlich seine Instrumente einpackte und ging, während die Beamten der Spurensicherung noch immer nach Fingerabdrücken suchten. Dann, im Widerspruch zu den ungeschriebenen Gesetzen, die von ihm verlangten, während der Dauer der Spurensicherung am Tatort zu bleiben, verließ Michael den Raum und lehnte sich an die Wand im Flur und wartete, daß es vorbei wäre. Eigentlich hatte er auch gehofft, außerhalb des Zimmers, in dem die Leiche lag, wieder atmen zu können, doch die Luft in dem engen, verwinkelten Flur war stickig. Er ging den Flur entlang und gelangte an eine Stelle, wo drei Flure zusammentrafen. Dort, umgeben von lilafarbenen Wänden, setzte er sich auf eine Holzbank, an deren anderem Ende Arie Klein saß, den Kopf auf die Hände gestützt.
    Arie Klein hob den Kopf und sah den Polizisten an. Seine Augen waren grau, tief und weit auseinanderstehend, in seinem Blick lagen Angst und Trauer. Michael Ochajon zündete sich eine Zigarette an und hielt dem großen Mann die Packung hin. Arie Klein schien mit sich zu kämpfen, schließlich zuckte er mit den Schultern, nahm eine Zigarette heraus und beugte sich zu Michael hinüber, der ihm Feuer gab. Einige Minuten lang rauchten sie schweigend.
    Es war erstaunlich ruhig hier. Die lilafarbenen Wände waren nicht von Türen unterbrochen. Es gab Briefkästen, Anzeigetafeln und zwei Bänke. Einen Moment lang hatte Michael das Gefühl, ein Teil von ihm befände sich außerhalb seines Körpers, wie eine Sprechblase in einem Comic. Dieser Teil, eine Art Miniaturausgabe seiner selbst, betrachtete Oberinspektor Ochajon und Professor Klein, wie sie da saßen und rauchten, während auf ihren Gesichtern eine geheime Bruderschaft zu erkennen war, die Bruderschaft von Menschen, denen es noch nicht gelungen war, ihre Angst, die stärker war als alles andere, hinter einer Maske zu verstecken.
    Der große, kräftige Körper Arie Kleins rutschte unbehaglich auf der schmalen Holzbank hin und her. Er wandte sein Gesicht Michael zu, der sah die grauen Augen, die Lippen, die sich bewegten, und hörte erst dann die Stimme des Professors für mittelalterliche Lyrik, die damals den großen Hörsaal im Haus Meiser auf dem alten Campus vom Giv'at Ram gefüllt hatte und die nun flüsterte: »Man kann nie voraussehen, was passieren wird.« Und dann, als habe er die stumme Frage des Polizisten verstanden, fügte er hinzu: »Ich hätte vorausgesagt, daß ich Trauer und Schmerz empfinden würde, vielleicht auch Entsetzen, aber mehr als alles habe ich Angst. Wie ein kleiner Junge, als besäße diese Leiche eine eigene Vitalität, eine Kraft, und könnte aufstehen und auf mich losgehen. Ich verstehe das nicht.«
    Michael streckte die Beine aus und starrte vor sich hin, aber es entging ihm kein Wort, und er war

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