Am Anfang war das Wort
neben Tiroschs Bett, zog drei tiefe Schubladen heraus und stellte sie vor dem Bett auf den Boden. Michael streckte sich und verkündete: »Ich brauche Kaffee, ich sterbe.«
Balilati ignorierte diese Ankündigung, breitete den Seidenmorgenrock über dem Bett aus – Michael sah den grünen Drachen, der auf den Rücken gemalt war – und schüttete den Inhalt einer Schublade darauf. Michael streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus. Plötzlich gab es einen Knall, und die Flasche Riesling, die auf der Kommode gestanden hatte, zerbrach. Im Zimmer breitete sich der säuerliche Geruch von Wein aus.
Balilati betrachtete die Scherben und sagte: »Gut, daß wir schon die Fingerabdrücke genommen haben, auch von den Gläsern, von allem haben wir Fingerabdrücke genommen.« Erst da bemerkte Michael die Spuren von Puder.
Balilati ging aus dem Zimmer. »Ich hole einen Lappen, um das Zeug aufzuwischen, damit es nicht so stinkt.« Wieder versuchte Michael, den süßlich-fauligen Geruch zu ignorieren, den er immer noch in der Nase hatte, und atmete tief den Rauch der Nelson ein, deren Duft sogar stärker war als der Weingeruch.
In der Schublade waren Fotoalben, von der altmodischen Art, mit einer Schnur zusammengebunden, und in ihnen befanden sich vergilbte Familienfotos, mit fremden europäischen Landschaften als Hintergrund. Auf der ersten Seite eines Albums stand mit verschnörkelter Schrift ein Wort: »Czaski«. Michael betrachtete das Foto einer Frau, die einen Jungen im Matrosenanzug an der Hand hielt, einen Jungen mit ernsten Augen, die in die Kamera schauten. Unter dem Bild stand mit blauer Tinte »Prag 1935«, in einer männlichen Schrift.
Er blätterte das Album durch, der Junge wurde Seite für Seite größer. Im zweiten Album war er bereits ein Jüngling, der keinen Matrosenanzug mehr trug, sondern Herrenanzüge und Krawatten. Der junge Mann auf dem vergilbten Schnappschuß hatte eine gelassene Haltung, die Hände hingen locker an beiden Seiten des Körpers, und seine Augen blickten ernst, ohne das Blitzen, an das sich Michael von den Vorlesungen über die Lyrik von der Aufklärung bis heute erinnerte. Unter einem anderen Foto, auf dem der junge Tirosch hinter derselben, inzwischen gealterten Frau zu sehen war – sie saß in einem schweren Sessel und hatte die Haare zu einem Knoten gebunden, er schaute direkt in die Kamera –, stand »Wien 1957«. Auch das war mit Tinte geschrieben, doch nun war die Schrift – lateinische Buchstaben – runder, weiblicher.
Hier hat man die Geschichte eines ganzen Lebens, dachte Michael, und sogar Stoff für die Erforschung des europäischen Judentums und seiner schicksalhaften Ortswechsel.
Balilati kam zurück, einen Lappen in der Hand. Er kniete sich auf den Boden und wischte den Wein und die Scherben auf. Michael legte die Alben vorsichtig in die Schublade zurück und leerte den Inhalt der zweiten auf den seidenen Morgenrock. Drei schwarze, ledergebundene Notizbücher verdeckten die roten Flammen, die aus dem Maul des Drachen kamen.
Jetzt sind sie historisch wertvoll, dachte Michael und erinnerte sich an die Reiseschreibmaschine, die im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch stand. Alle Gedichte Tiroschs standen in den Notizbüchern, mit Tinte geschrieben, mit langgezogenen, vokalisierten Buchstaben. Michael blätterte eine Seite nach der anderen um und fand Gedichte, die er kannte, Zeilen, die er auswendig wußte, Formulierungen, die ihn verblüfft hatten, als er sie zum ersten Mal las. »Was werden sie sich hier draufstürzen, die Literaturforscher, wenn das alles vorbei ist«, sagte er laut. »Hier gibt es verschiedene Fassungen ein und desselben Gedichts. Stoff genug für viele Aufsätze.«
»Was ist das?« fragte Balilati ungeduldig.
»Gedichte«, sagte Michael und deklamierte laut: »Zu welch schnöden Bestimmungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungskraft nicht den edlen Staub Alexanders verfolgen können, bis sie ihn findet, wo er ein Spundloch verstopft?«
Dani Balilati schaute ihn einen Moment erstaunt an, dann lachte er und schlug sich auf die Schenkel. »Ochajon«, rief er, »bei uns, bei der Polizei, sind wir nicht scharf auf Hamlet, weißt du, wir mögen aktive Leute, keine Zauderer.«
»Du kennst diese Sätze?« fragte Michael und kam sich dumm vor, als Balilati mit einem gutmütigen Lächeln antwortete: »Sei nicht so ein Snob, wirklich. Auch ich hab' Hamlet im Gymnasium auswendig gelernt, noch dazu auf englisch, stundenlang, es hat nur einen
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