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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Moment gedauert, bis ich kapiert hab', wovon du redest. Ich brauche nur ›Horatio‹ zu hören, und schon weiß ich, daß es aus Hamlet ist. Mein Bruder hat Julius Cäsar auswendig gelernt und meine Schwester Macbeth. Damals war ich fit, wenn's um Shakespeare ging. Aber trotzdem renne ich nicht bei der Arbeit herum und denke an Hamlet. Außerdem ist er ein negativer Typ, ganz ungesund. Könnten wir uns jetzt vielleicht wieder an die Arbeit machen? Sind diese Gedichte für unseren Fall wichtig?«
    »Alles ist wichtig für unseren Fall«, sagte Michael.
    Balilati schüttete den Inhalt der letzten Schublade auf das Bett.
    Zettel, einzelne gereimte Zeilen, Fotos von Tirosch selbst, Tirosch in Begleitung von Frauen, Tirosch in einer großen Gruppe, sorgfältig aus Zeitungen geschnittene Rezensionen über seine Gedichte, die Fotokopie eines großen Artikels über eine Preisverleihung, alte Speisekarten von Restaurants in Paris und Italien, alte Programme, persönliche Einladungen, Briefe und Tagebücher.
    »Darauf habe ich gewartet«, sagte Balilati, und beide begannen sie, schweigend in den Tagebüchern zu blättern. »Ich kann es kaum glauben«, sagte Balilati. »Schau nur, wie viele Frauen! Und alle mit Namen und Adresse. He, warum wirst du denn so rot?« Michael reichte ihm das erste Blatt des Briefes, den er gerade las.
    Balilati warf einen Blick darauf, dann begann er langsam und konzentriert zu lesen. Wortlos streckte er die Hand nach der Fortsetzung des Briefes aus, der aus einer detaillierten Auflistung der Gründe bestand, warum diese Frau, die den Brief mit ihren Anfangsbuchstaben unterzeichnet hatte, Tirosch wiedersehen wollte.
    Als er fertig war, stieß Balilati einen Pfiff aus und sagte: »Gut, das müssen wir mitnehmen. Nach diesem Brief hatte  er ja ganz gute Techniken, unser Dichter, nicht wahr?« Und wieder sah Michael die Leiche mit dem konturlosen Gesicht vor sich. Ohne etwas zu sagen, blätterte er weiter in den Briefen. Er war peinlich berührt und neugierig, sogar aufgeregt, wie immer, wenn er in die Intimsphäre von Opfern eindringen mußte.
    »Scha'ul, Zwika!« rief Balilati an der Tür. »Kommt, einpacken.«
    »Wir haben schon einige Säcke voll draußen hingestellt, und jetzt kommt noch einer«, sagte Scha'ul in einem mürrischen Ton, der gar nicht zu ihm paßte. »Wir werden eine ganze Mannschaft brauchen, um das Zeug auszuwerten.«
    »Was ist los, Scha'ul?« fragte Michael. »Stimmt was nicht?«
    »Nichts von Belang, außer daß meine Frau mich umbringen wird. Heute ist unser Hochzeitstag, und ich habe ihr versprochen, daß ich um sechs zu Hause bin. Wir wollten essen gehen. Ich hab' mich noch nicht mal getraut, sie anzurufen. Weißt du, wie oft wir es uns im Jahr leisten können, in ein richtiges Restaurant gehen zu können, bei meinem Gehalt?«
    Sie gingen in die Küche. »Gut«, sagte Michael, machte die Zigarette im Spülbecken aus und warf den feuchten Stummel in den Abfalleimer unter der Spüle, dessen Inhalt bereits in einem der Säcke verschwunden war.
    »Was soll das heißen, gut?« fragte Scha'ul mit rotem Gesicht. »Schau dich doch um, wieviel Material es noch gibt.«
    »Es kann bis zum Morgen warten. Wieviel Jahre seid ihr verheiratet?«
    »Zehn«, antwortete Scha'ul und sah ein wenig besänftigt aus.
    »Zehn?« sagte Balilati. »Dann habt ihr euch eigentlich ein Wochenende in Eilat verdient. Was Richtiges, nicht nur mal ins Restaurant.«
    »Meinst du?« antwortete Scha'ul wütend. »Und wer bezahlt es mir, wenn ich mein Konto überziehe? Du etwa? Wer paßt auf die Kinder auf?«
    Balilati seufzte und nickte. »Na ja. Uns geht's doch allen so, oder? Glaubst du etwa, wir fahren jedes Wochenende nach Eilat? Haben wir vielleicht alle einen Freund, der einen Tauchclub leitet?« Mit seiner verschwitzten Hand schlug er Michael auf die Schulter.
    »Wo ist Eli?« fragte Michael.
    »Zurück ins Büro. Die Zentrale hat ihm mitgeteilt, daß die in Eilat das Ergebnis der pathologischen Untersuchung bekommen haben. Deshalb versucht er die ganze Zeit, dort anzurufen«, sagte Zwika. Plötzlich ging die Tür des kleinen Kühlschranks, an dem er lehnte, auf, und Scha'ul, der ihm gegenüber stand, schaute hinein. »Sag mal, hast du schon mal so etwas gesehen?« fragte er und zog eine kleine Glasvase mit roten, unter dem Blütenkelch abgeschnittenen Nelken heraus.
    Balilati brach in Gelächter aus. »Dieser Typ war aber echt durchgestylt, was? Ochajon, los, zitier doch ein bißchen Hamlet, jetzt

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