Am Anfang war das Wort
verdrängen. Doch immer hatte er das Gefühl, daß hinter der Fröhlichkeit, die sie zeigte, wenn sie zu ihm kam, etwas Tieftrauriges steckte, daß sich hinter der erfahrenen und selbstsicheren Frau ein kleines, erschrecktes Mädchen verbarg. Aber so war es doch meistens, hatte er gedacht. Nimm eine selbstsichere Frau, und du wirst ein erschrecktes Mädchen finden. Trotzdem war es bei Maja etwas anderes. Unter der kindlichen, unsicheren Schicht, das fühlte er deutlich, verbarg sich noch etwas, was tiefe Furcht in ihm weckte, eine Kraft und eine Fähigkeit, auch das Schlimmste auszuhalten. Was »das Schlimmste« war, wußte er nicht, doch das Gefühl, sie verfüge über eine Art tragischer Kraft, war für ihn absolut eindeutig. Und jetzt bekam das Gefühl einen Namen, wurde real.
»Multiple Sklerose«, sagte Maja mechanisch, in wissenschaftlichem Tonfall. »Lange war der Verlauf sehr langsam, aber jetzt sitzt er schon seit einem Jahr im Rollstuhl, und vermutlich wird er ihn nicht mehr verlassen können.« Er hielt den brennenden Zigarettenstummel in der Hand, zog aber nicht daran. Ungläubig schaute er sie an.
»Es kann doch nicht sein, daß du das nicht gewußt hast«, sagte sie. »Wir leben in Jerusalem. Das ist eine kleine Stadt, kein Ort, an dem man nichts erfährt. Ich war sicher, daß du es weißt und nur so getan hast, als wüßtest du es nicht, um es mir nicht schwerzumachen. Schließlich bist du ein berühmter Kriminalist! Auch wenn es aufgrund der Tatsache, daß er Arzt ist, wegen der Nachbarschaft und wegen tausend anderer Gründe nicht so bekannt wurde.«
»Und als wir uns kennenlernten?« fragte Michael. Sie nickte.
»Zehn Jahre. Ein langsamer Verlauf. Er ist jetzt siebenundvierzig.« Maja ist also zehn Jahre jünger als er, dachte Michael schnell, und sofort schämte er sich.
»Aber ich hätte ihn nicht verlassen, auch wenn er nicht so schwer krank wäre, auch wenn er gesund wäre, aber dann hätte ich mir vielleicht nicht erlaubt, eine so tiefe Beziehung mit dir einzugehen.« Michael haßte das Wort »Beziehung« und dachte, wie hochmütig doch die Menschen waren, die meinten, sie könnten die Tiefe ihrer Liebe selbst bestimmen. Dabei bemühte er sich, ein undurchsichtiges Gesicht zu machen, und hielt sich zurück, um ja kein Wort zu sagen.
»Frag mich nicht, warum, aber ich habe nicht vor, ihn von zu Hause wegzubringen. Ich werde ihn selbst pflegen, solange das möglich ist. Und ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll, ganz abgesehen von meinem Schuldgefühl.«
Es gab nur sehr wenige Momente in seinem Leben, überlegte Michael später, in denen er so gelähmt gewesen war wie jetzt. Und wie in einem Film spulten sich alle Bilder von ihrer gemeinsamen Zeit vor seinem inneren Auge ab, angefangen bei ihrer ersten Begegnung: Eines Nachts fuhr er von Tel Aviv nach Jerusalem, und hinter der Biegung von Sche'ar Hagai sah er plötzlich ein Auto und die Gestalt einer Frau, die an dem Auto lehnte. Er blieb stehen. Es war ein Uhr nachts, und Michael Ochajon, der gerade Inspektor beim Dezernat für Schwerverbrechen geworden war, jung und geschieden, der Abenteuer überdrüssig, doch noch immer offen für jedes Lächeln einer Frau, hielt an und ging zu ihr hin. Sie lächelte, und sogar im schwachen Licht der Scheinwerfer konnte er die goldenen Tupfen in ihren Augen und ihre vollen Wangen erkennen. Dann sah er ihre runden, weißen Knie und den dicken Ehering an ihrem Finger. Als er sie fragte, ob sie ein Problem habe, sagte sie, das Benzin sei ihr ausgegangen. Sie fügte keine der üblichen weiblichen Entschuldigungen hinzu. Einen Moment überlegte er, ob er von seinem Tank etwas in ihren umfüllen solle, aber beim Gedanken an den Geschmack des Benzins, das er beim Ansaugen unzweifelhaft in den Mund bekäme, wurde ihm übel. Um diese Zeit war keine Tankstelle geöffnet. Schließlich schlug er ihr vor, sie nach Hause zu fahren, das Auto könne sie ja hier stehenlassen. »Ich hänge sehr an ihm, an meinem Peugeot«, sagte sie und tätschelte das Autodach, als handle es sich um ein edles Rennpferd. »Ich hoffe, daß er morgen früh noch da ist.« Das hoffe er auch, sagte Michael und machte ihr die Tür seines Autos auf. Bis heute erinnerte er sich an die herbstliche Luft, die immer kühler wurde, je weiter sie sich Jerusalem näherten, an den Vollmond – sie sagte, daß der Mond demütige Gefühle im Menschen wecke, daß man ihm gegenüber unmöglich gleichgültig bleiben könne –, an die
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