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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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ersten Stock abzuseilen! Unwillkürlich mußte ich kichern. Als ich an die vielen Nachmittage meiner Kindheit dachte, die ich wegen Hausarrests heulend in meinem Zimmer zugebracht hatte, fand ich es ganz in Ordnung, daß meine Mutter die Erfahrung auch mal machte.
    Nur blöd, daß ich mir monatelang gewünscht hatte, sie würde endlich verschwinden, und jetzt, wo sie gehen wollte, brauchte ich sie so dringend.
    Ob ich sie zum Bleiben überreden könnte? Ich trank mein Glas aus und verabschiedete mich. Rilke sah mich fragend an, machte aber keinen Versuch, mich aufzuhalten. Ich hätte ihn gerne zum Abschied geküßt, aber er stand nicht darauf, Zärtlichkeiten vor anderen auszutauschen.

    Zu Hause war es ganz still, Lucy und Jonas schliefen. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß des Gästezimmers und drehte ihn. Am liebsten wäre ich einfach in mein Zimmer gegangen und hätte so getan, als wäre nichts gewesen.
    Plötzlich war ich nicht mehr so überzeugt, daß das Ganze eine gute Idee gewesen war. Aber dann öffnete ich doch Queen Mums Türe.
    Sie lag auf dem Bett. Ein aufgeschlagenes Buch lag neben ihr, die Nachttischlampe brannte.
    Sie drehte den Kopf und sah mich ruhig an.
    »Es tut mir leid, Mummy«, sagte ich zerknirscht.
    Sie erhob sich vom Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und kam auf mich zu. Unwillkürlich hielt ich die Hände vors Gesicht. Sie hatte mich selten geschlagen, aber offenbar hatte ich in diesem Moment das Gefühl, eine Ohrfeige verdient zu haben.
    Statt dessen umarmte sie mich.
    »Warum läuft es so schief zwischen uns, mein Anna-Kind?« sagte sie, und ihre Stimme klang traurig.
    Diese Reaktion traf mich so unvorbereitet, daß ich von einer Sekunde zur nächsten in hilfloses Weinen ausbrach.
    Ich hielt sie umklammert, wie früher, wenn ich nicht wollte, daß sie wegging.
    »Ich weiß es auch nicht«, schluchzte ich.
    Wir setzten uns engumschlungen nebeneinander aufs Bett, sie wiegte mich und streichelte mein Haar.
    Es war das erste Mal in all den Monaten, daß es eine zärtliche Berührung zwischen uns gab.
    »Warum läuft es so schief?« wiederholte sie.
    »Du mischst dich zuviel in mein Leben ein«, sagte ich.
    »Das ist keine Einmischung, das ist meine Art, Anteil an deinem Leben zu nehmen. Ich wünsche mir doch nur, daß es dir gutgeht!«
    »Aber du erdrückst mich!«

    Sie schwieg und streichelte mich weiter.
    Widerstreitende Gefühle überfielen mich. Einerseits wollte ich wieder ein kleines Kind sein und von ihr gewiegt werden, andererseits wollte ich endlich als erwachsene Frau behandelt werden.
    »Ich finde, du hast einfach kein Recht, immer bei allem mitzureden«, ergriff ich wieder das Wort. »Egal, ob es meine Eheprobleme sind, meine Eßgewohnheiten oder meine Erziehungsmethoden, zu allem gibst du deinen Senf dazu. Ich ertrage diese ständige Bevormundung nicht mehr!«
    Ich spürte, daß sie aufbrausen wollte, aber dann beherrschte sie sich. Sie schwieg einen Moment, dann holte sie Luft und sprach mit ruhiger Stimme, nach Worten suchend, weiter.
    »Ich kann doch sagen, was ich will, du … du empfindest alles als Bevormundung. Du empfindest schon meine Anwesenheit als lästig, das habe ich genau gespürt in den letzten Monaten. Du hast mich geduldet, mehr nicht. Was glaubst du, wie demütigend das für mich war.«
    Es gab mir einen Stich. Ich hatte mich wirklich bemüht.
    Aber es stimmte natürlich, sie ging mir wahnsinnig auf die Nerven.
    »Tut mir leid, Mummy. Ich habe einfach das Gefühl, daß ich nichts richtig machen kann. Alles stößt nur auf deine Mißbilligung.«
    Sie schüttelte energisch den Kopf. »Das stimmt doch nicht, Anna. Du bist es, die immer Bestätigung von mir erwartet. Und wenn ich sie dir verweigere, versuchst du, mich zu provozieren.«
    Es war sinnlos. Wir fühlten uns unverstanden. Für jedes Beispiel gab es ein Gegenbeispiel, jede Verletzung war nur die Antwort auf eine vorausgegangene Kränkung.
    Obwohl wir zum ersten Mal überhaupt über unsere Gefühle sprachen, gab es keine Annäherung. Wir teilten die Trauer über unsere Fremdheit, aber wir konnten sie nicht überwinden.
    »Ruf mir bitte ein Taxi«, bat Queen Mum irgendwann erschöpft.
    »Wo willst du denn jetzt noch hin?«
    »Martin hat sich eine Wohnung in der Stadt genommen.
    Ich fahre zu ihm. Und ich bleibe dort, bis die Renovierung abgeschlossen ist. Kann ich meine Möbel solange hierlassen?«
    Ich nickte.
    »Ich fahre dich, Mummy«, bot ich an.
    »Laß nur, du sollst die Kinder nicht allein

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