Am Dienstag sah der Rabbi rot
warten.»
«Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen.» Er lächelte. «Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass Sie die traditionelle jüdische Einstellung zum Lernen und Studieren angenommen haben.»
«Heißt das, dass wir eine spezielle Einstellung haben?», fragte Shacter.
«Natürlich», erklärte sein Freund Luftig verächtlich. «Bekomme As, werde Ehrenstipendiat und hochverdienter Wissenschaftler.»
«Nein, Mr. Luftig, so ist das nicht», sagte der Rabbi. «Ganz im Gegenteil. Die Rabbiner postulierten, Wissen solle nicht als Spaten gebraucht werden, mit dem man umgräbt; damit meinten sie, es solle keinem praktischen oder materiellen Nutzen dienen. Lernen und Studieren sind bei uns eine religiöse Pflicht und infolgedessen kein Wettbewerbsobjekt. A-Noten und Ehrenprädikate sind Belohnungen bei einem Wettbewerb.»
«Wenn man keinen praktischen Nutzen davon hat, wozu dann das Ganze?», fragte Shacter.
«Weil der Wunsch nach Wissen, Wissen um seiner selbst willen, den Menschen vom Tier unterscheidet. Alle Tiere brauchen praktisches Wissen – wo die besten Nahrungsquellen zu finden sind, die besten Verstecke oder Lager – aber nur der Mensch unterzieht sich der Mühe, etwas zu lernen, einfach weil er es noch nicht weiß. Der Geist des Menschen hungert nach Wissen wie der Körper nach Nahrung. Und dieses Lernen dient ihm ganz allein, wie die Nahrung, die er isst.»
«Sie meinen also, es ist nicht koscher, wenn einer studiert, um Arzt oder Anwalt zu werden?», fragte Shacter.
«Er meint, er soll dafür kein Geld nehmen», erklärte Mazelman.
«Nein, Mr. Mazelman, das meine ich nicht. Die Gelehrsamkeit, die man erwirbt, um Arzt oder Rechtsanwalt oder auch Schreiner und Klempner zu werden, ist von ganz anderer Art. Es ist praktisches Lernen zum Nutzen der Gesellschaft. Und diese Art von Lernen erkennen wir ebenfalls an. Es gibt auch ein rabbinisches Sprichwort, das besagt, dass ein Vater, der seinem Sohn kein Handwerk beibringt, einen Dieb aus ihm macht. Sie müssen sehen; es gibt zwei Arten des Lernens: eine für sich selbst und eine für die Gesellschaft.»
«Was ein Arzt oder ein Anwalt lernt, ist das nicht auch für ihn selbst?», fragte Lillian Dushkin.
«Es füttert seinen Geist, das bestimmt; alles Erlernte tut das. Aber in erster Linie bildet er sich aus, um der Gesellschaft zu dienen. Ein Arzt lernt nichts über alle möglichen Krankheiten, nur um sich selber zu kurieren. Gewisse Zweige der Medizin haben gar nichts mit ihm zu tun, zum Beispiel die Geburtshilfe –»
«Die treffen für Ärztinnen zu.»
«In der Tat, Ms. Draper», bestätigte sie der Rabbi.
Luftig war auf einen Gedanken gekommen. «Wenn es zwei Arten des Lernens gibt, sollte es dann nicht auch zwei Arten des Lehrens geben?»
Der Rabbi erwog das. «Das ist ein guter Punkt, Mr. Luftig. Ein berufsgebundenes Studium sollte zweckdienlich sein. Ich sehe keinen Sinn darin, einem Jurastudenten mittelalterliches Kirchenrecht beizubringen oder einem Medizinstudenten die Humoraltheorie über Krankheiten.»
«Sollte nicht jedes Studium zweckgebunden sein?»
«Warum? Warum sollte das an einer philosophischen Fakultät eine Rolle spielen, Mr. Luftig? An ihr ist alles – was Sie interessiert, und das könnte mittelalterliches Kirchenrecht oder lateinische Inschriftenkunde sein – wert, studiert zu werden. Oder, um es anders auszudrücken: An einer philosophischen Fakultät ist alles relevant.»
«Wie rechtfertigen Sie dann schriftliche Arbeiten?», fragte Mark Leventhal. «Brechen Sie nicht Ihre eigenen Regeln, indem Sie uns Noten geben?»
«Ja, ich glaube, ich tue das. Aber ich muss mich an die Regeln des College halten.»
«Was würden Sie tun, wenn Sie es bestimmen könnten?», fuhr Leventhal beharrlich fort.
Der Rabbi überlegte einen Augenblick. «Ja, nachdem Sie aus einem abgelegten Examen Nutzen ziehen, müsste ich zwischen denen unterscheiden, die sich größte Mühe gegeben haben und denen, die das nicht taten. Ich würde also nur zwei Noten nehmen – bestanden und nicht bestanden. Und dann würde ich mir Examensfragen ausdenken, die mehr das Interesse als das nur Angelernte aufzeigen würden.»
«Wie könnten Sie das?»
«Im Moment weiß ich das auch nicht. Ich stelle mir vor, dass Sie die Wahl haben würden, alle Fragen zu beantworten, oder nur ein paar oder nur eine, aber die ausführlich.»
«Au, das ist eine gute Idee.»
«Klar, warum machen wir es nicht einfach so?»
«Vielleicht hätten die anderen Lehrer
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