Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition)
Antoinette bleibst.“
„Du hast mich einfach hier abgeladen.“
„Und ich bleibe dabei.“ Albin schickte sich an, aufzulegen. „Geh‘ zu Bett. Wir können morgen in Ruhe miteinander telefonieren.“
„Papa!“ Susanna legte so viel Nachdruck in die Stimme, wie es ihr möglich war. „Er hat mich gefunden. Ich weiß alles.“
„Wer hat dich gefunden?“
„Samuel, Patricks Onkel.“
„Wer ist Patrick? Susanna, wenn du Zeit schinden willst – deine Taktik geht nicht auf. Ich komme dich auf keinen Fall abholen.“
„Du weißt schon, Patrick, der mir die Flasche geschenkt hat.“
Albin antwortete nicht.
„Papa? Bist du noch dran?“
„Hm“, murmelte er nur.
Als er weiterhin schwieg, fuhr Susanna fort. Sie erzählte ihm, was sie in den letzten Tagen erlebt und erfahren hatte. Alle Sorgen und Gedanken sprudelten aus ihr heraus.
„Ich soll mich entscheiden, sagt Samuel. Er will, dass ich nach Kis-Ba-Shahid gehe - wegen der Bestimmung. Er sagt, es sei meine Aufgabe, Kis-Ba-Shahid zu retten. Das ist der Wahnsinn. Ich möchte da auch unbedingt mal hin. Führt der Weg tatsächlich durch den Teeladen? Du musst mir das genau erklären. Papa, das ist alles schrecklich aufregend.“ Sie seufzte.
Auch Albin seufzte vernehmlich.
„Schatz“, sagte er mit leiser Stimme. „Geh‘ zu Bett. Wir reden morgen weiter. Alles wird gut, du wirst sehen.“
***
Albin schlief schlecht in der letzten Zeit. Angefangen hatte es einige Tage vor Susannas dreizehntem Geburtstag. Er wusste um die Bedeutung dieses Datums für die Familien aus Kis-Ba-Shahid. Dennoch hatte er an seinem Entschluss festgehalten. Er hatte bereits seine Frau an Kis-Ba-Shahid verloren, seine Tochter würde er nicht auch noch hergeben.
Es war nicht seine beste Idee gewesen, sie nach Lesancé zu bringen. Aber welche Wahl hatte er gehabt? Bei Antoinette konnte er wenigstens sicher sein, dass sie Stillschweigen bewahrte. Sie vertrat, wie er, die Ansicht, Susanna müsse von Kis-Ba-Shahid und dem Erbe ihrer Mutter ferngehalten werden. Außerdem gab es schlichtweg keine weiteren Verwandten, außer denen in Kis-Ba-Shahid. Warum sie Susanna allerdings zu diesem Lehrer in das Dorf geschickt hatte, begriff er nicht. Da musste das Geheimnis doch unweigerlich auffliegen. Ob Antoinette ihre eigenen Ziele verfolgte? Er hatte diese Frau noch nie durchschauen können.
Und nun sollten all seine Bemühungen vergeblich gewesen sein? Wer war dieser Samuel, der ihm das angetan hatte?
Gegen fünf Uhr schlüpfte Albin in Schuhe und Jacke, nahm den Autoschlüssel vom Haken und machte sich auf den Weg nach Lesancé. Er kam gut voran zu dieser frühen Stunde. Schon zwei Stunden später erreichte er Antoinettes Haus.
Toni öffnete ihm nur mit einem Bademantel bekleidet.
„Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht wecken.“ Es gelang ihm nicht, schuldbewusst zu klingen.
„Was willst du - in aller Herrgottsfrühe?“
„Das fragst du noch? Du hättest besser auf sie aufpassen sollen. Verdammt noch mal. Warum hast du sie zu diesem Lehrer geschickt? Nun weiß sie Bescheid.“
Antoinette schüttelte mit dem Kopf.
„Was hat Herr Moulin damit zu tun? Schließlich muss das Kind lernen. Das Leben ist kein Honigbrot. Ohne Lehrer wird das nichts. Oder hast du jemals einen Teenager gesehen, der sich freiwillig in die Bücher vergräbt?“ Sie schnaubte. „Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Sie hat in der Bibliothek ein Buch über Kis-Ba-Shahid gefunden. Ich habe ihr gesagt, es sei ein Märchen und sie solle nicht alles glauben.“
„Du hast anscheinend einiges nicht mitbekommen“, sagte Albin. Toni sollte den Sarkasmus in seiner Stimme ruhig heraushören. Er folgte ihr ins Haus. Im Flur ließ er sie wortlos stehen, stieg die Stufen zu Susannas Schlafzimmer hinauf und trat leise ein.
Susanna lag ihm Bett und schlief friedlich. Auf Zehenspitzen durchquerte er den Raum, setzte sich auf die Fensterbank und betrachtete seine Tochter. Er liebte sie, mehr als alles andere auf der Welt. Nach dem Tod seiner Frau war Susanna das Einzige, was ihm geblieben war.
Albin fröstelte. Er würde nicht zulassen, dass Kis-Ba-Shahid seine Fühler nach ihr ausstreckte.
Durch die Vorhänge schimmerte das erste Licht des Tages. Susanna bewegte sich unruhig, aber sie erwachte nicht. Die Sonne stieg höher und die Helligkeit im Zimmer nahm zu. Endlich regte sich Susanna, sie gähnte und reckte die Arme nach oben.
„Guten Morgen“, sagte Albin leise, um sie nicht zu
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