Am Ende bist du mein
Vater führte uns nach oben. Es war, wie er gesagt hatte. Ihre Mutter saß da und schaukelte das Kind in den Armen.»
Sie muss damals schon labil gewesen sein, begriff Adrianna. Und dann hat der Tod des Kindes sie an den Rand des Wahnsinns gebracht.
Dr. Davis zog ein Taschentuch aus der Kitteltasche und tupfte sich Schweißtropfen von der Stirn. «Ich bat Ihre Mutter, mir das Kind zu geben, und zu guter Letzt hat sie es getan. Der Säugling war blau angelaufen und atmete nicht mehr. Alle Versuche, das Kind wiederzubeleben, waren vergebens. Plötzlich wurde Ihre Mutter hysterisch, als erfasse sie mit einem Mal, was geschehen war. Ihr Vater bat uns zu gehen. Ich bot ihm an, an seiner Stelle die Polizei anzurufen, doch davon wollte er nichts wissen. Für ihn handelte es sich um eine Privatsache, und außerdem konnte er den Gedanken an eine Obduktion des Kindes nicht ertragen.» Davis seufzte schwer. «Ihre Eltern waren unsere Freunde, und es schien sich um einen plötzlichen Kindstod zu handeln. Also habe ich klein beigegeben …» Seine Stimme verebbte, und sein Blick richtete sich nach innen.
«Aber es hat Ihnen zu schaffen gemacht», sagte Adrianna mit behutsamer Stimme.
Dr. Davis atmete tief durch und schaute Adrianna kummervoll an. «Es hat mir keine Ruhe gelassen. Einige Tage später rief ich Ihren Vater an. Er sagte, es sei alles in Ordnung. Am Nachmittag sah meine Frau Ihre Mutter mit einem Baby.»
«Mein Gott», stöhnte Adrianna. «Und das Baby war ich.»
Davis nickte. «Meiner Frau erklärte Ihre Mutter dann, das Baby sei Adrianna, der es wieder viel besser gehe. Daraufhin rief meine Frau mich völlig verstört an. Ich fuhr zu Ihrem Vater. Er trug mir auf, mich um meinen eigenen Kram zu kümmern. Erst nach langem Zureden gab er zu, dass sieeinen Säugling angenommen hatten. Dass Margaret in ihrer Verzweiflung gedroht hatte, sich das Leben zu nehmen. Er hatte das andere Kind besorgt, um sie zu retten.»
«Besorgt», wiederholte Adrianna bitter. «Einfach so?»
«Glauben Sie nicht, mir hätte das gefallen. Genau genommen war ich fassungslos. Aber wenigstens habe ich darauf bestanden, dass er eine Kinderfrau sucht, die dafür sorgt, dass dem zweiten Kind nichts geschieht.»
Adrianna betrachtete ihre Hände, die eiskalt in ihrem Schoß lagen.
«In dem Punkt war Ihr Vater mir schon zuvorgekommen», sprach Dr. Davis weiter. «Und als ich dann Estelle kennenlernte, wusste ich, dass Sie gut aufgehoben waren. Nur die ganze Heimlichtuerei – oder Vertuschung, wenn Sie so wollen, hat mich gestört. Stört mich noch immer, wenn ich ehrlich bin. Dazu gab es einfach keinen Grund, falls der Tod des Kindes natürlich war.»
«Könnte mein Vater dem Kind etwas angetan haben? Vielleicht war er ja gar nicht dazugestoßen, sondern –»
«Bitte, Adrianna», fiel Davis ein. «Das führt zu nichts und geht zu weit. Ein Säugling kann Eltern nachts wach halten, und wenn sie mit den Nerven am Ende sind, ist es möglich, dass sie ein Kind zu heftig schütteln, aber das möchte ich weder Ihrem Vater noch Ihrer Mutter unterstellen.»
«Wissen Sie denn, wo das erste Kind begraben worden ist?»
«Nein. Es war kein offizielles Begräbnis, nur so viel steht fest.»
«Wahrscheinlich hat mein Vater das Kind einfach irgendwo entsorgt. Mit derselben Leichtigkeit, in der ich ‹besorgt› worden war.»
«Niemals», entgegnete Davis fest. «Ihr Vater hat dasKind geliebt. Meiner Meinung nach hat er dessen Tod nie verwunden.»
Und deshalb ist er mir gegenüber immer distanziert geblieben, ergänzte Adrianna im Stillen. Ihr Vater hatte sie nie in die Arme genommen. Im Grunde hatte er kaum mit ihr gesprochen. Sie dachte an die langen Jahre, in denen sie alles getan hatte, um seine Liebe zu gewinnen. Wie sie zuletzt geglaubt hatte, dass sie für diese Liebe nicht gut genug sei, und doch immer wieder versucht hatte, perfekt zu werden, nur um ihm ein freundliches Wort abzuringen. Und dabei war es von Anfang an aussichtslos gewesen.
«Ich wollte Ihnen nur sagen, dass mich so ein Schleimscheißer von Channel 10 belästigt», brüllte Minor durchs Telefon.
Gage hielt sich sein Handy ein Stück vom Ohr ab und lief mit Vega über den Parkplatz. «Hat er gesagt, woher er weiß, dass Rhonda eins der Mordopfer ist?»
«Nein. Nur dass er mit der Affäre von Rhonda und Craig heute Abend auf Sendung geht.»
Gage stieß einen Fluch aus.
«Moment», schrie Minor. «Hier ist es zu laut.» Eine Tür wurde zugeknallt.
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