Am Ende bist du mein
merkwürdig vor, als hätte sie ihn gestohlen. Nein, eher war es, als schwebte sie zwischen zwei Leben: einem, in das sie geboren worden war, und einem anderen, das man ihr aufgezwungen hatte.
«Weißt du, ob es Fotos von dem ersten Kind meiner Mutter gibt?»
Estelle hob die Schultern. «Wenn, habe ich sie nie gesehen. Aber ich könnte ja mal auf dem Speicher nachschauen. Falls es welche gibt, sind die da oben.»
«Bitte, tu das bald», drängte Adrianna.
«Ach, Schätzchen.» Kopfschüttelnd sah Estelle sie an. «Wozu willst du denn diese alten Wunden aufreißen?»
Adrianna dachte an die finstere Miene, mit der Gage sie vor ein paar Stunden angeschaut hatte. «Das scheint zurzeit an der Tagesordnung zu sein.»
Craig stellte den Fernseher an und ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken. Endlich. Sein Rücken schmerzte, und hinterseinen Schläfen wurde gehämmert. Was für ein scheußlicher Tag. Ständig hatte ihm jemand mit irgendwelchem Kram in den Ohren gelegen.
Aber jetzt war er endlich zu Hause. Konnte er selbst sein und die Fassade fallenlassen, die er tagsüber krampfhaft aufrechterhielt.
Er nahm einen kräftigen Schluck Whisky und knipste mit der Fernbedienung den Videorecorder an.
Ein körniges Bild flackerte auf. Eine Frau erschien, die Hände über dem Kopf mit einer Kette gefesselt, die durch einen Wandhaken lief. Durch den rosafarbenen Unterrock schimmerten ihre langen blassen Beine und die kleinen spitzen Brüste. Ihre Haut war schweißbedeckt. Langes blondes Haar fiel über ihre Schultern.
«Wie fühlst du dich?» , fragte seine Stimme flüsternd aus dem Off.
Ihr Blick richtete sich auf ihn. Verzweifelt. «Kann ich jetzt gehen? Mein Sohn wartet auf mich.»
«Noch nicht.»
Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. «He, wenn du es nochmal machen willst, musst du es nur sagen.» Ein schwaches Lächeln, das mehr Angst als Lust verriet. «Ich will einfach nach Hause.»
«Heute habe ich deine Postkarte verschickt.»
Ihre Augen weiteten sich. «Was für eine Postkarte?»
«An deine Schwester. Eine Ansichtskarte aus San Francisco. Ich wollte nicht, dass sie und dein Sohn sich Sorgen machen.»
«Aber warum denn? Du hast doch gesagt, ich kann wieder gehen, wenn ich mich benehme.»
«Liebst du mich?»
Sie schloss die Augen und wand sich bei der Erinnerung an die Lektionen, die er ihr in den letzten sieben Tagen erteilt hatte. «Ja, ich liebe dich, Craig.»
«Und ich liebe dich – Adrianna.»
Die Achtunddreißiger tauchte auf. Ein Kopfschuss. Blut spritzte an die Wand hinter ihr. Ihr Körper sackte zusammen.
Craig stellte den Fernseher aus. Die alten Videos brachten ihm nichts mehr. Es wurde Zeit, sich eine neue Beute zu holen.
Elf
Mittwoch, 27. September, 21.00 Uhr
Gage kehrte nach Hause zurück. Noch einmal versuchte er, Dr. Heckman telefonisch zu erreichen, doch der Mann meldete sich wieder nicht. Nicht einmal ein Anrufbeantworter schaltete sich ein. Er beschloss, Heckman am nächsten Tag aufzuspüren.
Am Nachmittag hatten Butler und Tess ein zweites Skelett ausgegraben, das sich inzwischen in der Gerichtsmedizin befand. Dass es sich dabei um Jill Lable, Craigs Freundin aus der Schule, handelte, hatte Butler ausgeschlossen. Die Überreste, die sie vorgefunden hatten, waren mindestens zehn Jahre älter.
Also hatten sie ein unbekanntes Opfer, das sie noch identifizieren mussten.
Gage warf seine Jacke auf einen Stuhl, trat an den Kühlschrank und holte eine Flasche Bier. Das Haus hatte er vor einigen Jahren gekauft. Es lag im Norden von Richmond, hatte sechs Zimmer, schöne alte Stuckdecken und nach hinten hinaus einen großen Garten. Mit dem Haus der Thorntons war es zwar nicht zu vergleichen, aber es bot genügend Platz, um Besucher unterzubringen, auch wenn sein Besuch in der Regel nur aus seinen drei Brüdern bestand oder Jessie, die dann und wann bei ihm übernachtete.
Zwei seiner Brüder logierten schon seit einer Weile bei ihm. Travis und Kevin, die in der Stadt bei der Feuerwehr arbeiteten, aber Miete sparen wollten, um später vielleicht doch noch aufs College zu gehen. Tommy, der dritte von ihnen, lebte mit seiner Freundin zusammen.
Nachdem er einen kräftigen Zug aus der Flasche genommen hatte, lockerte Gage seine Krawatte, ließ sich auf einen Stuhl fallen und nahm sich die Tageszeitung vor.
Den Gesellschaftsteil wollte er schon überblättern, doch dann fiel sein Blick auf ein Foto. Darauf stand Adrianna neben anderen Frauen, die
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