Am Ende der Straße
nicht untersuchen würden.
Russ schlich näher Richtung Leiche und starrte sie durchdringend an. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er atmete schwer. Seine Nase pfiff irgendwie.
Er leckte sich zweimal über die Lippen und blinzelte dann.
»Ich habe noch nie eine Leiche gesehen.«
»Ich auch nicht. Na ja, ich habe meinen Großvater gesehen, aber das war etwas anderes. Er hatte keine …«
Ich deutete auf Salvo und schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Plötzlich wandte Russ sich ab und würgte. Er rannte in eine Ecke und machte die Taschenlampe aus, während er kotzte. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass ich ihn dabei sah. Sofort waren wir von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben. Ich konnte hören, wie seine Kotze auf den Boden tropfte. Zum ersten Mal an diesem Tag war ich dankbar für die Dunkelheit, weil sie mir den Anblick von Toms Leiche ersparte.
Draußen in der Dunkelheit lachte jemand – ein schrilles, zittriges, irres Lachen.
Vielleicht war es auch die Dunkelheit selbst, die lachte.
Als sich das Lachen in Schreie verwandelte, nahm ich es kaum wahr. Ich war bereits dabei, mich daran zu gewöhnen.
NEUN
I ch weiß nicht, ob Tom Salvo der Erste war, der an diesem Abend starb, aber er war keinesfalls der Letzte. Als die Zeiger der Uhren sich zu den Stunden vorgearbeitet hatten, die wir früher mal Morgen genannt hatten, waren weitere neun Menschen tot. Und das waren nur die, von denen ich am nächsten Tag durch die Gerüchteküche und den Tratsch überhaupt erfuhr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es noch mehr waren – entweder durch eigene Hand oder durch andere gestorben, ohne jemanden, der sie vermissen würde, die Leichen unentdeckt. Und eines sollte klar sein: Ich zähle dabei die Leute, die in die Dunkelheit hinausgegangen waren, nicht mit. Ich rede hier nur von denen, die in Walden geblieben waren.
In dieser ersten Nacht gab es, soweit ich weiß, zehn Tote.
Von da an wurden es immer mehr.
Einer der Toten war Feuerwehrchef Peters, der mit dem unglücklich gewählten Namen. Wie auch immer der Plan ausgesehen hatte, den er für unser Überleben entworfen hatte, er starb mit ihm. Anscheinend hatte er einen Herzinfarkt, ein paar Stunden nach dem vereinbarten Zeitpunkt, als sich seine Männer aus der nächsten Stadt hätten melden sollen, was nie geschah. Es ist
immer dieselbe, traurige Geschichte – Bluthochdruck in Kombination mit dem Stress einer unvorstellbaren Situation. So wie ich es verstanden habe, hätte sich sein Tod verhindern lassen, wenn sie ihn in ein Krankenhaus hätten bringen können, aber natürlich war niemand mutig – oder dumm – genug, ihn dorthin zu befördern. Das Krankenhaus befand sich jenseits des schwarzen Schleiers, und inzwischen hatten Gerüchte die Runde gemacht – sobald man diese Grenze überschritt, kehrte man nicht zurück. Sein Tod war in dieser Nacht der einzige mit natürlichen Ursachen. Das erklärte auch, warum es von da an keine weiteren Gemeindeversammlungen oder Neuigkeiten mehr gab. Ich schätze, niemand von der Feuerwehr wollte sich diesen Schuh anziehen. Oder vielleicht war von ihnen auch niemand mehr übrig.
Neben Tom Salvo begingen zwei weitere Menschen Selbstmord. Eine Frau schnitt sich die Pulsadern auf und verblutete in ihrer leeren Badewanne. Die Kerzen um sie herum brannten vollständig runter. Und ein weiblicher Teenager, dessen Eltern nicht von der Arbeit zurückgekommen waren, erhängte sich. Sie knüpfte sich aus einem Verlängerungskabel eine Schlinge und kletterte dann auf einen Stuhl. Ein paar Stunden später wurde sie von der alten Nachbarin gefunden, die nach ihr sehen wollte. Zu Füßen des Mädchens lagen Bilder von ihren Eltern. Wahrscheinlich waren sie das Letzte, was sie sah, bevor sie den Schritt ins Leere getan hat.
Alle anderen Opfer dieser ersten finsteren Nacht wurden ermordet. Einem schlug ein betrunkener Freund mit einem Montierhebel den Schädel ein. Angeblich waren
die beiden Männer zum Footballfeld der Highschool gezogen, um zusammen ein paar warme Bier zu zwitschern. Ich weiß nicht genau, was sie dort alles trieben, aber irgendwann gerieten sie in Streit. Einige Leute wurden Zeugen des Mords, aber der Freund lief davon, bevor sie ihn aufhalten konnten. Niemand wusste, wo er jetzt war. Wahrscheinlich versteckte er sich irgendwo da draußen in den Schatten. Und es gab eine Menge Schatten, in denen man sich verstecken konnte. Vielleicht hatte ihn inzwischen die Erkenntnis getroffen, was er da getan hatte,
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