Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
ihrer Mutter am Tisch sitzt, ist es fast wie früher. Martha erzählt aus der Schule, von Herrn Schwartz, dem unmöglichen Mathelehrer, der stumm eine Tafel vollschreibt, abwischt, die nächste vollschreibt, wieder abwischt und dann erwartet, dass man alles kapiert hat. Sie erzählt von der geplanten Theateraufführung und dass Jill die Hauptrolle übernehmen wird.
«Sie will ja auch Schauspielerin werden», sagt Martha kauend.
«Passt zu ihr», sagt ihre Mutter.
«Du konntest sie noch nie leiden.»
«Sie ist mir einfach zu … irgendwie weiß man nie so recht, woran man bei ihr ist.»
«Ich schon», erwidert Martha trotzig. «Ich weiß immer, woran ich bei ihr bin.»
Constanze legt ihr die Hand auf den Arm. «Es ist schön, dass du eine Freundin hast, mit der du über alles reden kannst. Das tust du doch, oder?» Sie sieht Martha prüfend an.
Martha nickt. Dabei stimmt das nicht. Es gibt vieles, über das sie mit Jill nicht reden kann.
«Vielleicht wäre es aber gut, du würdest auch noch mit jemand anderem reden.»
«Mit wem? Und worüber?» Martha fühlt, wie Kälte in ihr hochsteigt. Sie weiß, was gleich kommt.
«Du hast nie über Papas Tod gesprochen und –»
«Was gibt’s da auch zu reden?» Die Pizza schmeckt plötzlich wie Pappe.
«Sehr viel. Ich kann mir vorstellen, dass du seinen Tod erst mal als Erlösung empfunden hast, genau wie ich. Erlösung von der ständigen Angst. Wenn man einem Menschen so lange beim Sterben zusehen muss, dann ist man erleichtert, wenn es vorbei ist. Aber danach –»
Ihre Mutter bricht ab, ihre Stimme zittert, als sie weiterspricht. «Danach kommen die Schuldgefühle. Mir hat damals die Gruppe wirklich sehr geholfen. Es war gut zu wissen, dass alle dort einen ähnlichen Schicksalsschlag erlitten haben. In der Gruppe hab ich mich zum ersten Mal verstanden gefühlt.»
Die Gruppe!
Dieser Trauerkloßverein, wie Martha es bei sich genannt hatte. Jeden Donnerstagabend war ihre Mutter da hingegangen und irgendwann immer länger geblieben. Angeblich war sie mit den Teilnehmern im Anschluss noch was trinken gegangen, aber Martha hatte von Anfang an so einen Verdacht. Schließlich war nicht einzusehen gewesen, wieso ihre Mutter sich jeden Donnerstag so schick machte. Trauern konnte man doch auch in Jeans und ohne Lippenstift.
«Mich kriegst du da jedenfalls nicht hin», sagt Martha und schiebt ihren Teller weg. «Mir geht’s gut, und es würde mir noch bessergehen, wenn wir beide allein wären.»
Ihre Mutter geht nicht darauf ein. «Ich dachte ja auch nicht an eine Selbsthilfegruppe, sondern an einen … einen Therapeuten.»
«Du meinst so jemanden wie die komische Tante da oben?» Martha zeigt an die Zimmerdecke. Und wie auf Kommando ertönt die Heimorgel, die Frau Dr. Dernburg gern lang und laut spielt.
Marthas Mutter legt sich in gespieltem Entsetzen die Hände auf die Ohren. «Wenn es wenigstens ein Klavier wäre, Orgelmusik konnte ich noch nie leiden.» Sie wird wieder ernst. «Nein, ich dachte da eher an einen Mann. Johannes kennt da einen Arzt, der spezialisiert ist auf Trauerbewältigung bei Kindern und –»
«Dann soll er seine Rotznase da hinschicken, ich bin jedenfalls kein Kind mehr!» Martha steht auf, nimmt ihren Teller und wirft ihn fast in die Geschirrspülmaschine. «Und außerdem muss ich Hausaufgaben machen.»
Martha geht in ihr Zimmer. Fast hofft sie, ihre Mutter würde zu ihr kommen, weiter auf sie einreden. Auch wenn das total nervt, aber Martha kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einfach nur zu zweit waren. Nicht seit sie hier wohnen. Immer ist entweder Poppy da oder Johannes oder beide. Das könnte dem Glatzkopf so passen, Martha zu einem Seelenklempner zu schicken. So was braucht sie nicht.
Sie kann auch alleine um ihren Vater trauern. Aber tut sie das eigentlich? Trauert sie? Wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, versucht sie jeden Gedanken an ihren Vater von sich wegzuschieben. Na und? Schließlich wird er auch nicht wieder lebendig, wenn sie die ganze Zeit an ihn denkt.
Sie seufzt, dann zieht sie
A Streetcar named Desire
aus dem Rucksack. Sie versucht zu lesen, kann sich aber nicht konzentrieren, immer wieder sieht sie Millers Gesicht vor sich, die Grübchen, wenn er lächelt, seinen Mund, der so voll und rot ist wie bei einer Frau.
Babyface
nennt ihn Jill. Na und? Diese männlichen Typen, auf die sie steht, machen Martha Angst. Jill ist ja auch keine Jungfrau mehr, sie hat mit einem aus der Zwölften geschlafen, das
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