Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
nur wegen Jill, aber die lässt ihn ja am langen Arm verhungern.
Da fällt Martha ein, dass Vincent nicht mehr dabei ist. Und es versetzt ihr komischerweise einen kleinen Stich. Sie findet zwar überhaupt nichts an ihm, aber sein Verliebtsein hat ihr auch geschmeichelt. Und nun ist ihm sein blödes Rudern wichtiger als sie.
An diesem Abend nimmt Martha am gemeinsamen Abendessen teil, sie kann ja schlecht sagen, sie hätte keinen Hunger, und macht sich dann in der Küche über die Reste her.
Wieder hat Johannes gekocht. «Das ist für mich nach der Klinik die reinste Entspannung», sagt er.
Heute Abend hat er Lachsfilets gebraten, dazu gibt es geschmorten Fenchel. Martha kannte Fenchel bisher nur in Form von Hustentee, aber sie muss zugeben, dass es schmeckt. Poppy isst wie immer nur den Reis.
«Ich könnte ihr doch ein Rührei dazu machen oder ein Würstchen», sagt Constanze.
Johannes schüttelt den Kopf. «Irgendwann wird sie schon auf den Geschmack kommen. Bloß keine Extrawürste, es reicht, dass sie den Fraß im Kindergarten in sich reinstopft.»
«Heute gab’s Fischstäbchen», sagt Poppy.
«Na, großartig.»
«Ist das Essen im Krankenhaus besser?», fragt Martha und ist über sich selbst erstaunt. Sie hat die Glatze noch nie etwas gefragt.
«Das Essen im Krankenhaus ist eine Katastrophe», sagt Johannes. «Vielleicht koche ich deshalb so gern. Am Essen der Patienten wird gespart, stattdessen geben wir ein Vermögen für Medikamente aus, die wir überhaupt nicht bräuchten, wenn die Ernährung anständig wäre.»
«Was denn für Medikamente?», fragt Constanze.
«Vitamine, Eisentabletten, Calcium, so was eben.»
«Ich erinnere mich, dass Armin, als er das erste Mal nach der Chemo überhaupt etwas essen konnte, Linseneintopf bekommen hat», sagt Marthas Mutter. «Mit Speck.»
Martha springt auf. «Muss noch Vokabeln lernen.»
Das ist noch nicht einmal gelogen, aber nicht der Grund. Sie will nicht über ihren Vater sprechen, schon gar nicht über die Zeit im Krankenhaus.
Sie hatte ständig Ausreden dafür gefunden, um ihn dort nicht besuchen zu müssen. Hatte Klassenarbeiten vorgeschoben, war sogar in den Schulchor eingetreten, um einen weiteren Nachmittagstermin zu haben. Solange ihr Vater im Krankenhaus war, konnte sie sich vorstellen, er sei verreist. Das war er in seinem Beruf als Journalist oft genug gewesen. Manchmal für Wochen. Martha war daran gewöhnt, mit ihrer Mutter allein zu sein, und sie hatte es gemocht. Mit ihrem Vater war immer auch Unruhe ins Haus gekommen, er hatte viel telefoniert, noch mehr geraucht und bis in die späte Nacht am Computer gesessen.
Aber natürlich konnte sich Martha nicht immer vor den Besuchen im Krankenhaus drücken.
«Papa fragt ständig nach dir», hatte ihre Mutter gesagt. «Komm doch bitte mit.»
Und dann lag er da mit gelbem Gesicht, die Kanüle im Arm, ganz fremd ohne seine widerborstigen dunklen Haare. Nur seine Stimme war bis kurz vor seinem Tod geblieben. Deshalb hatte Martha auch viel lieber mit ihm telefoniert.
Sie muss an das letzte Telefonat mit ihm denken. Das war drei Tage vor seinem Tod. Er hatte gefragt, ob sie nicht noch vorbeikommen wolle, aber sie war mit Jill zum Shoppen verabredet gewesen.
«Kauf dir was Hübsches, meine Kleine», hatte er mit einer fremden, brüchigen Stimme gesagt. «Und dann führst du es mir vor, versprochen?»
Sie hatte sich etwas Hübsches gekauft. Einen weißen Rock mit bunter Stickerei darauf. Sie hat ihn nie getragen.
Er hängt immer noch im Schrank. Und als sie jetzt an den Rock denkt, fängt sie an zu weinen. Sie weint wegen diesem blöden Rock. Und es tut verdammt gut.
4.
M iller steckt die DVD zurück in seine Aktentasche.
«Wie? Seh’n wir keinen Film?», fragt Simon enttäuscht.
«Nein, ich hab es mir anders überlegt.»
Es ist Mittwoch siebte Stunde, und das traurige Häuflein, das von der Theater- AG übrig geblieben ist, hockt auf der Bühne der Aula vor dem Schrank mit dem Fernseher.
«Ich hab aber echt Bock drauf», beharrt Simon. «Ihr doch auch, oder?» Er dreht sich beifallheischend zu den anderen um.
Miller stellt sich schützend vor den Schrank. «Ich möchte, dass ihr eure eigenen Bilder zu den Figuren entwickelt. Wenn wir jetzt den Film sehen, dann habt ihr immer Marlon Brando im Kopf, wenn ihr an Stanley Kowalski denkt, oder Vivien Leigh als Blanche.»
«Aber Sie haben es versprochen.» Simon gibt keine Ruhe.
Miller lächelt, doch Martha sieht, dass er innerlich alles
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