Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
nicht reich, aber die junge Prinzessin verliebte sich in ihn, heiratete ihn und zog mit ihm in eine kleine, schäbige Hütte. Doch eines Tages kam die alte Prinzessin zu Besuch und hatte den ganzen Koffer voller Prinzessinnenkleider.»
«Wie sahen die aus?», fragt Poppy und reißt die Augen auf.
«Die waren wunderschön, aus Seide und Samt, mit Federn geschmückt, aber die alte Prinzessin war inzwischen noch älter und hässlicher geworden. Das konnte aber keiner sehen, weil sie die Lampen in der Hütte mit Tüchern verhängte. Zuerst freute sich die junge Prinzessin, ihre Schwester wiederzusehen, aber nicht lange. Denn die alte Prinzessin ließ sich in der Hütte häuslich nieder und lag stundenlang in der Badewanne. Man muss nämlich wissen, dass sie in ihrer Heimat alles verloren hatte, das Schloss, ihre Arbeit –»
«Prinzessinnen arbeiten nicht», stellt Poppy fest.
«Diese schon. Aber jetzt hatte sie nichts mehr außer ihren Kleidern.»
«Weiter!», befiehlt Poppy.
Martha kaut auf ihrer Lippe, jetzt wird es schwierig.
«Also … der Mann der jungen Prinzessin konnte die alte Prinzessin nicht leiden und sie ihn auch nicht. Sie fand, er sei ein gemeiner Kerl, und er sagte, sie sei faul und würde seinen Schnaps wegtrinken.»
«Auweia!»
Martha muss lachen. Sie merkt, dass ihr die Geschichte anfängt, Spaß zu machen. Die junge hübsche Prinzessin in der Geschichte ist ja schließlich sie!
«Aber der Mann hatte einen Freund, und der –»
«War ein Prinz?»
«Nein, der war auch kein Prinz, aber er verliebte sich in die alte hässliche Prinzessin und hätte sie auch beinahe geheiratet, und alles wäre gut geworden, wenn er nicht eines Tages das Tuch von der Lampe gerissen und sie gesehen hätte.»
«Dann ist er weggelaufen», sagt Poppy.
«Ja, er lief fort, und die alte Prinzessin war so unglücklich, dass sie vor lauter Kummer verrückt wurde.»
«Is sie gestorben?»
Martha überlegt. Nein, Blanche stirbt nicht am Ende, sie kommt ins Irrenhaus, aber ist das nicht dasselbe?
«Genau, sie ist gestorben, und die junge hübsche Prinzessin hat ein Baby bekommen und lebte mit ihrem Mann glücklich und in Freuden, und wenn sie nicht –»
«Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute», leiert Poppy, und dann fängt sie an zu lachen, sie lacht so laut, als würde sie von oben bis unten durchgekitzelt werden.
Martha hat wenig Erfahrungen mit kleinen Kindern, aber das ist nicht normal. Das kann nicht normal sein. Eben schreit sie wie ein abgestochenes Ferkel, und im nächsten Moment lacht sie wie eine Irre.
«Du bist verrückt, weißt du das?», sagt Martha. «Genauso verrückt wie Blanche.»
«Wer ist Blangsch?»
«Das ist der Name von der alten hässlichen Prinzessin. Blanche ist Französisch und heißt weiß.»
Poppy nickt mit dem Kopf, so als würde sie genau verstehen, was Martha meint. «Vielleicht ist sie ja ein Gespenst.»
Wenn Martha an Jill in ihrem weißen, langen Gewand denkt, könnte Poppy sogar recht haben.
«Ich bin auch ein Gespenst!», kreischt die Kleine und verkriecht sich unter Marthas Bettdecke. «Du musst mich suchen», ertönt es dumpf.
«Komm sofort raus aus meinem Bett!», ruft Martha. «Nachher pinkelst du da rein.»
Poppys Kopf taucht wieder auf. «Mach ich aber nich!»
«Haha», sagt Martha.
«Ich mach immer nur Pipi in
mein
Bett.»
«Und warum, wenn man fragen darf?»
«Darum.» Poppy dreht ihr Gesicht zur Wand.
«Ich will nicht, dass du in meinem Bett liegst, hörst du?» Sie zieht und zerrt an dem Kind, dass sich in der Matratze verkrallt hat. «Raus! Sonst –»
Martha ist erleichtert, als sie jetzt den Schlüssel im Schloss hört. Sofort kriecht Poppy aus dem Bett und läuft aus dem Zimmer. «Habt ihr mir was mitgebracht? Habt ihr mir was mitgebracht?»
Martha schließt die Tür. Sie streicht die zerdrückte Bettdecke glatt, ein langer Sabberfaden bleibt an ihrem Finger kleben. Sie hält das nicht mehr aus, keinen Tag länger!
Am Sonntagabend ist Frau Dr. Dernburg immer noch nicht zurück. «Vielleicht hatte sie einen Unfall und liegt im Krankenhaus», sagt Martha beim Abendessen. Obwohl sie sich vorgenommen hat zu hungern, nimmt sie sich noch einmal, als ihr die Glatze die Schüssel mit den Spaghetti hinhält. Das ist alles nur der Frust. Wenn sie mit ihrer Mutter allein leben würde, müsste sie bestimmt nicht ständig essen.
«Vielleicht is sie ja tot», sagt Poppy.
«Dann könnte sie wenigstens keinen Schaden mehr
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