Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
Martha erst zur zweiten Stunde. Als sie gerade aus dem Haus gehen will, kommt ihre Mutter mit geröteten Augen und wirren Haaren aus dem Schlafzimmer. Hat sie etwa geweint? Johannes war gestern den ganzen Tag in der Klinik gewesen, und beim Abendbrot waren er und Constanze überaus höflich miteinander umgegangen, so nach dem Motto:
Gibst du mir bitte mal das Salz? Aber ja. Reichst du mir mal die Butter?
Gestritten hatten sie jedenfalls nicht mehr, aber Martha spürt, dass da irgendwas nicht stimmt. Eigentlich müsste sie sich darüber freuen, stattdessen fühlt sie sich nur verunsichert.
«Könntest du Penelope in den Kindergarten bringen, Martha?», fragt Constanze. «Johannes ist schon weg, und ich hab fürchterliche Kopfschmerzen und würde mich gern noch etwas hinlegen. Liegt doch auf dem Weg zur Schule», fügt sie hinzu.
«Was? Das ist ein Riesenumweg», sagt Martha. «Außerdem muss ich los, und Poppy ist nicht mal angezogen.»
«Die zweite Stunde beginnt doch erst kurz vor neun.»
«Muss noch Physik machen», sagt Martha und öffnet die Tür. «Wir schreiben gleich den Test.»
«Ich denke, Johannes hat dir alles erklärt?»
«Er hat’s ja selber nicht kapiert», sagt Martha und schlägt die Tür zu, bevor ihre Mutter sie noch weiter bearbeiten kann. Wenn sie erst einmal damit anfängt, Poppy morgens mitzunehmen, wird nur eine Gewohnheit daraus. Und das will sie nicht, auf keinen Fall!
Johannes hatte sich am Sonntagabend wirklich mit Martha hingesetzt und versucht, ihr den Trägheitssatz zu erklären, aber sehr weit waren sie nicht gekommen. «Tut mir leid, mein Physikum liegt zu lange zurück», hatte er gesagt und auf die Uhr geschaut. «Ich muss noch mal kurz weg.»
Später hätte Martha schwören können, dass über ihr Schritte zu hören waren. In der Dernburg’schen Wohnung lief jemand hin und her! Ihre Mutter wollte Martha nicht wecken, die hatte sich längst hingelegt. Vor Angst war ihr ganz übel geworden, und sie hatte Jill angerufen.
«Guck doch einfach mal, ob das Siegel noch heil ist», hatte Jill vorgeschlagen. «Dann weißt du, ob du dir das nur eingebildet hast oder nicht.»
Gestern Nacht hatte Martha sich das nicht getraut, aber heute Morgen geht sie schnell hoch in den vierten Stock. Sie hat noch nie ein Polizeisiegel gesehen und findet es ziemlich enttäuschend. Es ist nichts weiter als ein blaues Klebeband, auf dem in weißer Schrift steht, dass man sich nach irgendeinem Paragraphen strafbar macht, wenn man das Siegel beschmiert oder beschädigt.
Auf jeden Fall ist es unversehrt, es kann also niemand in der Wohnung gewesen sein. Aber sie hat die Schritte doch gehört, oder etwa nicht? Wird sie langsam verrückt?
Als sie zur Schule kommt, steht ein Polizeiwagen vor dem Eingang. Marthas erster Gedanke ist: «Die sind wegen mir hier!»
Auf dem Hof stehen Schüler in kleinen Grüppchen zusammen und unterhalten sich aufgeregt.
Langsam geht Martha über den Hof, da kommt ihr Hanna entgegengestöckelt. «Hast du schon gehört? Vorhin ist hier ein Mädchen vergewaltigt worden.» Sie wirft ihr glattgebügeltes Haar zurück.
«Was?», ruft Martha. «Bei uns an der Schule?»
Hanna nickt. Ihre Augen leuchten. Man spürt förmlich, wie sie es genießt, die Überbringerin dieser sensationellen Botschaft zu sein. «Wir sollen nach der Pause alle in die Aula.»
«Aber wir schreiben doch Physik!»
Hanna zieht eine Augenbraue hoch. «Legst du da etwa gesteigerten Wert drauf?»
Das tut Martha nicht, aber wenn der Test verschoben wird, muss sie noch einmal von vorne anfangen mit dem Lernen, und darauf hat sie keine Lust.
In der Aula brennt die Luft. Fetzen von Gerüchten, Vermutungen, Verdächtigungen wandern von Reihe zu Reihe, aber so richtig wissen tut keiner etwas.
Herr Dr. Lause, der Direktor, geht mit wichtigem Schritt den Gang entlang nach vorn. Ein Schüler reicht ihm ein Mikro, er räuspert sich und nestelt an seiner Fliege.
Dr. Lause trägt immer Fliege und fühlt sich damit anscheinend sehr unkonventionell, dabei ist sein Unterricht so staubtrocken, dass man am liebsten die ganze Zeit husten möchte.
«Leider gab es einen bedauerlichen Vorfall an unserer Schule», beginnt er. «Eine Schülerin aus der siebten Klasse wurde heute Morgen in der nullten Stunde sexuell belästigt. Hier in der Aula. Sie wollte vor dem Unterricht auf dem Flügel üben. Herr Woitke hat ihr die Aula aufgeschlossen. Der Täter muss ihr gefolgt sein. Glücklicherweise konnte sich das Mädchen
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