Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
Blöden geübt?»
Miller fährt sich über das Gesicht. «Ich finde das genauso enttäuschend wie ihr, das könnt ihr mir glauben. Mir liegt sehr viel an dem Stück.» Bei diesen Worten sieht er Martha an, und ein Glücksgefühl durchströmt sie. Gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen, wie kann sie in dieser Situation glücklich sein?
«Und was ist mit der Generalprobe?», fragt sie. «Findet die trotzdem statt?»
«Wenn ihr wollt, können wir das Stück am Mittwoch gern spielen», sagt Miller. «Nur für uns. Aber ich kann auch gut verstehen, wenn ihr dazu jetzt keine Lust mehr habt.»
Den ganzen Tag gibt es kein anderes Thema als die versuchte Vergewaltigung.
«Also wenn ich scharf auf ein Mädchen wäre, hätte ich mir ja was Hübscheres ausgesucht als den Zwerg», sagt Simon.
«Ey, du bist so bescheuert!», ruft Juliane aus der Zwölften, von allen nur «die Emanze» genannt. «Du glaubst anscheinend auch, dass nur Frauen vergewaltigt werden, die sexy aussehen, was? Und womöglich noch selbst dran schuld sind, weil sie einen kurzen Rock tragen oder High Heels.»
«High Heels wären bei dem Zwerg ja mal ’ne gute Idee.» Simon kichert. Juliane tippt sich an die Stirn, dreht sich um und marschiert über den Hof.
Martha findet Simons Gequatsche auch unmöglich, aber wenn sie ganz ehrlich ist, wundert sie sich genau wie er darüber, dass irgendjemand es ausgerechnet auf Lilli abgesehen haben konnte.
«Die ist doch flach wie ein Brett», sagt Hanna und streckt ihren Busen raus, damit alle sehen, dass sie es nicht ist.
«Vielleicht hat die das auch bloß erzählt, um sich wichtigzumachen», knurrt Jill. «Wäre ihr zuzutrauen.» Jill hatte sich oft und gern über den Zwerg und seine Klavierkünste während der Chorproben lustig gemacht. Martha hatte immer angenommen, sie sei nur neidisch, denn obwohl Jill seit Jahren Klavierunterricht hat, sind ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet doch eher bescheiden.
«Glaubst du?», fragt Martha. Sie kann sich das nicht vorstellen. Im Gegenteil, wenn ihr so etwas Schreckliches passiert wäre, hätte sie vermutlich überhaupt nichts gesagt, aus Angst, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen.
«Ich werde mit ihr reden», sagt Jill plötzlich. «Es kann nicht sein, dass wir wegen dem Zwerg unser Stück nicht aufführen können.»
«Aber wie willst du an sie rankommen?», fragt Simon. «Die bleibt bestimmt wochenlang zu Hause von wegen Trauma und so.»
«Ihre Adresse hab ich schon mal, die steht auf der Teilnehmerliste vom Chor», sagt Jill.
Der Polizeiwagen ist inzwischen verschwunden. Von den Schülern ist keiner befragt worden, da außer dem Hausmeister niemand in der Schule war, als sich der Vorfall ereignete.
«Vielleicht war’s ja der Woitke selber», sagt Simon und grinst. «Man muss sich ja nur seine Frau anschauen, dann kann man verstehen, dass er auf dumme Gedanken kommt.»
Die Frau des Hausmeisters sieht aus wie ein Fass auf zwei Beinen.
«Aber den Woitke hätte Lilli doch sicher sofort erkannt», sagt Hanna. «Allein schon wie der immer nach Schweiß riecht.»
«Vielleicht hat er sich ja heute Morgen zur Abwechslung mal gewaschen», meint Simon. «Und vergiss nicht, er trug eine Maske.»
«Hat der Maskenmann was gesagt?», fragt Martha.
«Keine Ahnung», sagt Jill. «Aber ich kann den Zwerg ja fragen, Hauptsache, die Eltern lassen mich mit ihr reden. Ich werde am besten erzählen, ich sei Vertrauensschülerin und meine Aufgabe wäre es, mich in so einem Fall um das arme Opfer zu kümmern.»
«Vertrauensschülerin?» Simon wiehert vor Lachen. «So was gibt’s doch gar nicht an der Schule, nur einen Vertrauenslehrer.»
«Na und? Das wissen die Eltern ja nicht, und außerdem ist Herr Pöhlmann schon seit den Ferien krank.»
Simon macht eine eindeutige Handbewegung. «Entziehungskuren dauern eben.»
«Willst du etwa behaupten, dass der Pöhlmann Alkoholiker ist?», fragt Martha.
Simon zuckt mit den Schultern. «Ich hab nichts gesagt.»
Martha und Jill gehen nach der Schule ins Engelmann gegenüber. Jill hat zum ersten Mal, seit Martha sie kennt, nicht diesen ironisch-überlegenen Gesichtsausdruck. Ihre Hände zittern, als sie ein Zuckertütchen aufreißt und den Inhalt in ihren Cappuccino schüttet.
«Du kannst auch gern noch meins haben», sagt Martha und reicht ihr den Zucker.
«Danke, Zucker beruhigt die Nerven.» Sie legt Martha die Hand auf den Arm und drückt so fest zu, dass es wehtut. «Das ist meine Chance, verstehst du? Ich lass
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