Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
sie plappert mitten in Simons Text: «You didn’t know Blanche as a girl. Nobody, nobody was tender and trusting as she was.»
Martha hört nicht mehr, was Simon sagt. Kommt erst wieder zur Besinnung, als er eindringlich fragt: «Hey, what is it, Stella? Stella!»
«Take me to the hospital!», stößt Martha hervor und ist froh, dass sie für zwei Szenen hinter der Bühne verschwinden kann.
Sie hockt sich in der Garderobe vor den Spiegel und bricht in Tränen aus. Sie kann das nicht! Sie wird sich diesen verfluchten Text nie merken. Schon an der Grundschule hat sie kläglich versagt, als sie in der Weihnachtsaufführung einen der Heiligen Drei Könige spielen sollte. «Wir sind die eiligen drei Könige und kommen aus dem Sorgenland», hatte sie brav aufgesagt, und alles hatte gelacht. Gut, damals war sie erst acht gewesen, aber sie erinnert sich noch gut daran, wie fürchterlich das Gelächter in ihren Ohren geklungen hatte.
Was soll denn bloß Miller von ihr denken, wenn sie sich so dämlich anstellt? Schließlich ist sie in die Theater- AG gegangen, um ihm zu imponieren. Natürlich nicht als Schauspielerin. Sie hat ein tolles Bühnenbild entworfen. Gut, er hatte sie dafür gelobt, aber trotzdem hat sie das Gefühl, dass sie ihn nur durch ihr Spiel beeindrucken kann. Aber das schafft sie nicht. Niemals.
Gleich muss sie wieder raus auf die Bühne, inzwischen läuft ihr der Schweiß in Strömen den Rücken herunter. Sie schaut ins Textbuch. Das Erste, was sie sagen muss, ist «Bathing», das wird sie ja wohl noch schaffen, aber dann folgen ein paar wirklich schwierige Sätze. Sie starrt sie an, ohne sie wirklich aufzunehmen. Wenn sie sich schon bei der Generalprobe so dämlich anstellt, wie soll das dann erst bei der Premiere werden?
Martha stolpert auf die Bühne und bringt die letzte Szene mehr schlecht als recht hinter sich.
Am Ende würde sie am liebsten gleich wieder verschwinden, aber Miller ruft alle zurück auf die Bühne.
«Halt, halt! Ihr könnt nicht einfach abhauen. Ihr müsst auch lernen, wie man Applaus entgegennimmt. Zuerst kommt das gesamte Ensemble auf die Bühne, dann jeder einzeln und zum Schluss noch einmal alle zusammen.»
Sie proben das drei-, viermal, bis Miller endlich zufrieden ist.
Dann übt er Kritik. «Jill, das war wieder sehr gut, vielleicht manchmal ein wenig zu viel. Wenn du schon zu Beginn so aufdrehst, kannst du dich zum Schluss hin nicht mehr steigern, denk dran.»
Jill nickt gelangweilt.
«Simon, du musst deine gegensätzlichen Gefühle noch stärker herausarbeiten: deine Verachtung Blanche gegenüber und die zärtliche Zuneigung für Stella. Du schlägst sie zwar, aber du bist auch total abhängig von ihr.»
Martha steht mit gesenktem Kopf da, als erwarte sie den Hieb eines Fallbeils.
«Mit deiner Angst stehst du dir nur selbst im Weg, Martha. Du kannst den Text, ich weiß es. Fang jetzt bitte bloß nicht an mit Lernen, das macht dich nur noch verkrampfter. Und wenn du einen Hänger hast, dann sprich den nächsten Satz. Weitermachen, einfach weitermachen. Das Publikum merkt es nicht, glaub mir.»
Beim Abendessen fragt Martha ihre Mutter: «Du kommst doch am Freitag?»
Constanze schneidet Poppy gerade Hühnchen in schmale Streifen und fragt zerstreut: «Freitag? Was ist denn am Freitag?»
«Da ist doch die Premiere von Marthas Stück», sagt die Glatze und schenkt sich Wein nach.
«Es ist nicht
mein
Stück», sagt Martha spitz, «es ist unser Stück. In der Theater- AG haben wir alle daran gearbeitet.»
«Natürlich komme ich», sagt Constanze. «Meinst du, dass du es schaffst, rechtzeitig hier zu sein?», fragt sie Johannes.
«Um wie viel Uhr fängt’s denn an?»
«Um sieben», sagt Martha.
«Ich hab Dienst bis sechs, aber vielleicht kann ich etwas früher Schluss machen, wenn wir keinen Notfall reinbekommen», sagt Johannes.
Constanze wirft Martha einen Blick zu, der bedeutet:
Nun sag schon was!
«Danke», sagt Martha, aber sie sieht die Glatze nicht an.
«Ich will auch mit», sagt Poppy, wobei ihr halbzerkautes Fleisch aus dem Mund fällt. Martha wird schon vom Hinschauen übel.
«Das ist nichts für dich, Poppylein», sagt Johannes. «Das ist was für Große.»
«Und außerdem auf Englisch», sagt Martha.
«One, two, three, four, five,
once I caught a fish alive,
six, seven, eight, nine, ten,
then I let it go again.
Why did you let it go?
Because it bit my finger so», zählt Poppy an ihren Fingern ab.
Johannes schluckt. Nach einer Weile
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