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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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verfügbar als die Hawaiianerinnen –, bei den Geschäftsverhandlungen häufig eine wesentliche Rolle spielten.
    Schon seit mehr als einem Jahrhundert werden die Ureinwohner Nordamerikas in der nördlichen Hemisphäre gerne idealisiert, teilweise sogar von den Ureinwohnern selbst. So stellt man sie häufig als perfekte Umweltschützer dar, als Bewacher des kontinentalen Eden, die ihre Beute verehrten und das Land pflegten, bis es von den europäischen Eindringlingen verwüstet wurde. Angesichts der vie len überlieferten Informationen über die Realität des Stam meslebens überrascht im Nachhinein diese Sicht durch eine rosa Brille. Aber es waren nicht nur Leute wie John Muir, Edward S. Curtis und Grey Owl, die diese Ansicht teilten. Ausgerechnet von George Armstrong Custer wusste man, dass er höchst sentimentale Töne anschlug, wenn es um den Niedergang derer ging, die er und viele seiner Zeitgenossen die »edle Rasse« nannten. Dabei bereitete der Otterhandel an der West Coast, schon vor der Eroberung des Westens und bevor irgendeiner dieser Romantiker geboren war, jeder später folgenden Form von ausbeutender Industrie den Weg.
    Nahrung war an der Nordwestküste meist reichlich vorhanden, dennoch werden die Ureinwohner auch dort Hunger und harte Zeiten in Form strenger Winter und unergiebiger Fischausbeute gekannt haben. Zwar war der Seeotter kein übliches Nahrungsmittel, aber aus seinem Fell wurde die kostbarste Kleidung jener Zeit gefertigt. Doch trotz dieses praktischen Nutzens und ungeachtet ihrer notwendigerweise stark ausgeprägten Sensibilität für den Rhythmus der Natur jagten die Ureinwohner der West Coast dieses Tier, bis es fast ausgestorben war. Damit bewiesen sie dieselbe Art profitgieriger Kurzsichtigkeit, durch die schon Dutzende anderer Arten, auch der Atlantiklachs und in jüngerer Zeit der Dorsch, ausgerottet wurden. Es ist dies ein grotesker und nur dem Menschen eigener Umgang mit Ressourcen – ähnlich dem Unterpflügen von Farmland für mehr Rasen oder der Gefährdung der Luftqualität eines imposanten Autos wegen.
    Aus der privilegierten Sicht des 21. Jahrhunderts lässt sich schwer sagen, wer der größeren Gier verfallen war: die Europäer in der Aussicht auf Gewinne im dreistelligen Prozentbereich oder die Ureinwohner, die plötzlich direkt an die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen und eine spektakuläre Freigebigkeit an den Tag legen konnten, die bis dahin für keinen Potlatch-Gastgeber an der Küste denkbar gewesen wäre. Sie waren so versessen darauf, in den Besitz der verschiedenen technischen Wunderwerke zu kommen, dass sie bereitwillig die Otterpelzmäntel vom Leib ihrer Ehefrauen und in einigen Fällen auch deren Leib selbst verkauften. Und die Eisenmänner ihrerseits waren so erpicht auf den Erwerb dieser Felle, dass sie praktisch alles eintauschten, was für die Heimreise nicht unerlässlich war, auch versklavte Ureinwohner anderer Küstenabschnitte, Schusswaffen, Silberwaren, Türschlüssel und die eigene Kleidung. Für alle Beteiligten waren es goldene Zeiten, in denen Habgier und ungezügelter Kapitalismus schamlos zelebriert wurden.
    Anders als uns Wildwestfilme und populärgeschichtliche Werke glauben machen wollen, war der Westen schon fünfundsiebzig Jahre vor dem Eintreffen von Eisenbahn, Jesse James, Sam Steele und der North-West Mounted Police »wild« geworden. Als Lewis und Clark im Jahr 1805 die Pazifikküste erreichten, waren die dortigen Ureinwohner bereits schwer bewaffnet. Schon 1795 erwiderten die Haida die Kanonenschüsse der Handelsleute mit eigenem Kanonenfeuer – aus Waffen, die sie beim Kapern europäi scher Schiffe erbeutet hatten. Spätestens 1810 waren einige Häuptlinge im Besitz so beachtlicher Arsenale, dass sie erstklassige schwenkbare Kanonen an die Nor’westmen zurück verkaufen konnten. Berichten zufolge hatten die Haida solches Kampfgerät auch am Bug ihrer Kanus in Stellung gebracht. Die Kunst der Befestigung hatten sie sich jedenfalls schon lange vor Eintreffen der Europäer angeeignet – mindestens ein Haida-Dorf nahe Masset verfügte über eine mit geplünderten Kanonen ausgestattete Einfriedung. Weiter nördlich ergriffen die Tlingits ihre eigenen Maßnahmen: Verärgert darüber, dass die Russian American und Hudson’s Bay Companies ihre Rolle als Vermittler zwischen den Stämmen im Landesinneren und denen an der Küste missbrauchten, legten sie die russischen und britischen Festungen in Schutt und Asche. Außerdem

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