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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Strecke von mehr als sechzigtausend Kilometern, auf der die Nor’westmen zwei Mal Ladung löschten, wieder bunkerten und mit den unterschiedlichsten gefährlichen Völkern handelten, wobei sie es mit mindestens vier miteinander nicht verwandten Sprachen zu tun bekamen. Neben Englisch und Französisch war der Handelsjargon Chinook an der Südküste bis Vancouver Island sehr verbreitet, während sich im Norden eine Haida-Entsprechung als hilfreich erwies. Außerdem musste immer jemand an Bord sein, der mit Hawaiianisch und Kantonesisch vertraut war.
    Indes machten die Einheimischen an der gesamten Küste surreale erste Erfahrungen mit sonderbaren Schiffen, auf denen Wesen wohnten, die für normale Menschen unmögliche Dinge tun konnten: Sie vermochten den obersten Teil ihres Kopfes abzunehmen (Perücken), ihre bunten Häute abzulegen und Gegenstände aus ihren Körpern zu ziehen (eng sitzende Kleidung). Mit ihren Waffen waren sie in der Lage, die aus Holzstäben und Seelöwenhaut gefertigten Kampfrüstungen zu durchdringen. Und ihre Augen waren blau. Als die Ureinwohner die Fremden besser kennenlernten, nannten sie diese zunächst Eisenmänner, später dann zur genaueren Unterscheidung Boston-Männer und King-George-Männer. Sie schienen nur eines Geschlechts zu sein. Abgesehen von dem einen oder anderen Kapitänsweib oder einer hawaiianischen Geliebten waren nur selten Frauen an Bord. Hierüber wurde jedoch hinweggesehen, genau wie über ihren sonderbaren Geruch, denn sie hatten viele beeindruckende Dinge bei sich, wie Meißel, Nägel, Kupfertöpfe, Scheren, Spiegel, Knöpfe, Decken und Messingglocken, die sie offenbar unbedingt loswerden wollten. Begleitet wurden sie jedoch von den vier apokalyptischen Reitern in Gestalt von Rum, Waffen, ansteckenden Krankheiten und einer streitbaren Weltsicht. Diese Besucher aus der Ferne waren, wie sich herausstellte, nicht aus dem Land der Toten zurückgekehrt, sondern brachten den Tod mit sich. Jemand, der nur ein Jahrhundert später die West Coast bereist und mit eigenen Augen ein Dorf nach dem anderen übersät mit den Knochen nicht beerdigter Toter gesehen hätte, wäre überzeugt gewesen, dass sich das Land der Toten genau hier befand, in Nordamerika. Nun war es keineswegs so, dass Mord, Gemetzel oder Krankheiten den Völkern der Nordwestküste völlig fremd waren: Schließlich nahmen die Haida die Köpfe ihrer Feinde, und das Pockenvirus war aller Wahrscheinlichkeit nach auch schon vor den Handelsleuten bei ihnen angekommen. Es waren Ausmaß und Bandbreite der Zerstörung, die sie als derart überwältigend empfanden.
    Ohne Zweifel hatten die Fremden bei den ersten Verhandlungen den Reiz des Neuen und einen gewissen Überraschungseffekt auf ihrer Seite und waren dadurch im Vorteil. Beispielsweise erzielten einige von Cooks Männern mit den vom Volk der Nuu-chah-nulth erworbenen Otterfellen einen Gewinn von tausendachthundert Prozent, sodass es fast zu einer Meuterei kam, weil ein Teil der Mannschaft ihre »Entdeckungsreise« aufgeben und wieder zur Küste fahren wollte, um weitere Felle zu erstehen. Den Ureinwohnern wurde der wahre Wert der neuen Handelswaren im Vergleich zu ihrer eigenen jedoch schnell bewusst, und von da an war bei jedem Geschäft enormes Verhandlungsgeschick gefragt.
    So sehr sie auch das Gegenteil glauben wollten, die neue Welt, in der die Nor’westmen sich befanden, war beim besten Willen kein unschuldiger oder naiver Ort. Als die Fremden dort eintrafen, existierte bereits reger Handel unter den Stämmen, und diverse Waren, von Kupfer und Papageientaucherschnäbeln bis zu menschlichen Sklaven und den Skalps von Spechten, wurden bereits eifrig ausgetauscht – zwischen Kalifornien und Alaska genau wie zwi schen den Inseln und der Prärie. Die Neulinge mussten sehr zu ihrem Ärger feststellen, dass so grundlegende Gesetze und Gepflogenheiten wie Nachfrage und Angebot, unlautere Werbung, Wucher, Übergehen des Zwischenhändlers und natürlich die klassische Lockvogeltaktik an der Küste bereits weit verbreitet waren. Einer der Nor’westmen drückte es so aus: »Diese Könner im Nordwesten konnten ein Pferd mindestens so gut färben wie ein Jockey in der zivilisierten Welt und eine alte Seezunge genauso problemlos ›auffrischen‹ wie der gerissenste und skrupelloseste unse rer Fischhändler.« Was die sexuell ausgehungerten Män ner noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte, war die Tatsache, dass die Frauen von der North Coast – sexuell meist seltener

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