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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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war von den Dutzenden oder mehr Handelsschiffen, die bis zum Zusammenbruch des Otterhandels von Stämmen der West Coast gekapert worden waren, gut die Hälfte den Haida zum Opfer gefallen.
    Eine frühe Ursache für Spannungen ergab sich aus der Tatsache, dass Diebstahl unter nahezu allen Völkern, denen die Handelsleute begegneten, als akzeptable Gepflogenheit galt. Zu sagen, die Ureinwohner würden alles nehmen, was nicht niet- und nagelfest war, schien wohl noch untertrieben: John Meares, einer der ersten Nor’westmen, berichtete, »man hatte sie [die Ureinwohner] oft dabei beobachtet, dass sie den Kopf eines Nagels, der auf einem Schiff oder Boot ein wenig aus dem Holz herausragte, mit den Zähnen herauszogen«. Diebstahl war für sie eine Art Sport, ähnlich dem counting coup *** der Prärie-Indianer.
    Man vertrat offenbar die Ansicht: Wenn jemand irgendetwas nicht wirksam schützen konnte, ob nun einen Suppenlöffel oder einen Schoner, hatte er es ohnehin nicht zu besitzen verdient. Die weißen Handelsleute freilich praktizierten dazu ihre eigene Version: Während die Ureinwohner sich mit Werkzeugen, Wäsche und Ruderbooten davonmachten, dachten sich die Handelsmänner nichts dabei, an Land zu gehen und sich vom Wasser, Holz und Wild zu nehmen, so viel sie wollten – sämtlich Dinge, die von den Ureinwohnern als ihr Eigentum betrachtet wurden.
    Aus solchen Gründen wurden Deals oft in einer Atmosphäre kaum verhohlenen gegenseitigen Misstrauens und entsprechender Geringschätzung verhandelt, gerade mal in den dünnen Deckmantel eines sorgfältig konzertierten Protokolls gehüllt: Austausch von Geschenken, Einladungen zum Essen und Besuch der Unterkunft des jeweils anderen usw. Als jedoch Wettbewerb und Inflation explosionsartig zunahmen, dauerte es nicht lange, bis der Aus tausch von Geschenken und die Festlichkeiten zu angespannten, schwer bewaffneten Treffen verkamen, die starke Ähnlichkeit mit einem Drogendeal oder Geiselaustausch in heutiger Zeit hatten. Wie eine einzelne Transaktion ablief, hing zum großen Teil von den beteiligten Persönlichkeiten ab, und ehrbare, anständige Händler waren auf beiden Seiten zu finden. Doch schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell, und ein für die frühe und schnelle Verschlechterung der Handelsbeziehungen verantwortlicher Mann war John Kendrick, der als einer der zerstörerischsten Handelsgesandten in die frühe amerikanische Geschichte eingehen wird. Unter anderem war Kendrick der Erste, der größere Mengen Waffen an die Stämme der West Coast verkaufte, und ihm ist es zu verdanken, dass die Geschichte der Queen Charlotte Islands die blutigste der ganzen Küste ist.
    Alles wäre vielleicht anders gekommen, hätte nicht im Juni 1789 jemand Captain Kendrick, einem der Boston-Männer, die Unterwäsche gestohlen, worauf dieser glaubte, Koyah, dem dortigen Häuptling, eine Lehre erteilen zu müssen, indem er dessen Bein in ein Kanonenrohr steckte, ihm das Haar abschnitt und ihm das Gesicht bemalte. Dies war eine so vernichtende Demütigung für Koyah, einen angesehenen und wohlhabenden Häuptling, dass die Wiederherstellung seines verlorenen Status für ihn zur Obsession wurde. Als Kendrick zwei Jahre später zurückkehrte, wurde er von Koyah erwartet. Dem gelang es, Kendrick und sein Schiff zu kapern, doch letztlich war er waffentechnisch unterlegen. Es folgte ein Massaker, bei dem mindestens vierzig Haida getötet und viele mehr verwundet wurden (diesem Kampf wurde später auf einem Flugblatt mit dem Titel The Ballad of the Bold Northwestmen gedacht). Koyah überlebte, und das nächste Schiff, das sein Territorium erreichte, wurde bis zur Wasserlinie heruntergebrannt und seine Mannschaft abgeschlachtet, mit Ausnahme eines Mannes, den man zum Sklaven machte. Im selben Jahr ließ ein Verbündeter Koyahs einem anderen Schiff dieselbe Behandlung zuteilwerden. Und im Jahr 1795 leitete Koyah einen Angriff mit mehr als vierzig Kanus, besetzt mit etwa zwölfhundert Kriegern, gegen ein weiteres amerikanisches Schiff namens Union . Der Überfall wurde gnadenlos abgewehrt, wobei mindestens siebzig Haida umkamen. »Ich hätte mit Kartätschen noch hundert mehr töten können«, schrieb der zwanzig Jahre alte Kapitän der Union , »aber ich ließ Menschlichkeit walten und stellte das Feuer ein … Von uns wurde niemand verletzt.«
    Häuptling Maquinna, derselbe Mann, der Captain Cook so herzlich aufgenommen hatte, wurde zu ähnlich extremen Handlungen getrieben. Fünf Jahre

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