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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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seinem achtunddreißigsten Geburtstag, sein Leben eine bestürzende Wendung nahm.
    Hadwin hatte für eine Holzfirma oben in McBride, nahe der Grenze zu Alberta, Leiharbeit geleistet. Man hatte ihn wärmstens empfohlen, und Gene Runtz, der Forstmanager der Firma, war beeindruckt. »Er hatte außergewöhnlich gut gearbeitet«, erinnert sich Runtz. »Dann ging er zwischen zwei Jobs ungefähr zehn Tage lang fort, und als er zurückkam, schien er ein ganz anderer Mensch geworden zu sein – wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Augen sahen aus, als seien sie gar nicht mehr da. Das gehört zu den schockierendsten Dingen, die ich in meiner Laufbahn bei der Forstindustrie erlebt habe. Er sprach mit uns und erklärte, dass es falsch war, was wir taten. Und dem gab er auch noch einen religiösen Anstrich. Er sagte, er wolle nicht mehr für uns arbeiten. Ich hielt Gottweißwas von dem Burschen, aber als ich in diese irren Augen blickte, die mich musterten – anstarrten –, dachte ich: ›Heilige Scheiße, wenn dieser Kerl weg will – gut so.‹«
    Dass Hadwin während seiner Abwesenheit eine Vision gehabt hatte, wusste Runtz nicht. Wie die Mönche und Ere miten, die einst aus den Wüsten des Mittleren Ostens zu den entlegensten Außenposten der British Isles zogen, hatte Had win sich in die Wildnis hinausgewagt und eine Botschaft empfangen, die er nicht ignorieren konnte. Wie die Theologin Benedicta Ward schrieb: »Die Spiritualität der Wüste besteht darin, dass sie nicht gelehrt, sondern empfangen wird. Das ist ihr Wesen.« Hadwin war nicht auf der Suche nach einer solchen Erfahrung, sie schlich sich von hinten an und traf ihn wie ein Knüppel auf den Kopf. Genauso rätselhaft, wie die Anwandlung aufgetreten war, verging sie auch, und Hadwin nahm seine selbstständige Tätigkeit wieder auf. Zwar wurde seine Arbeit als hervorragend beurteilt, aber seine Auftraggeber bemerkten, dass er sich verändert hatte. »Das Ausmaß an Arbeit, das er allein bewälti gen konnte, war unglaublich, und seine Pläne waren großartig, aber manchmal hatte man den Eindruck, dass er besessen war«, erinnerte sich Grant Clark, der Hadwins Arbeit ein Jahr später außerhalb von Kamloops, drei Autostunden östlich von Gold Bridge, betreute. »Er hielt sich nur da draußen auf und kam nicht in die Stadt zurück. Er blieb immer auf Abstand. Man konnte seine Arbeit loben, aber es bedeutete ihm nichts.« Nach Clarks Gefühl schien Hadwin auf einer anderen Ebene zu agieren. »Er schien sich völlig im Einklang mit der Natur zu befinden. Er wusste immer ganz genau, wo er sich befand. Tiere blieben in seiner Nähe; er war ihnen nicht unheimlich.«
    Aber so kompetent und im Einklang mit der Natur Hadwin auch gewesen sein mag, die Implikationen der Lage in McBride waren beunruhigend. Es hatte den Anschein, als habe nach einer zwanzigjährigen Unterbrechung dasselbe Familiengespenst, das seinen Bruder umgebracht hatte, auch ihn ins Visier genommen. Es schien nur schwer vorstellbar, dass der unüberwindbare Grant so verletzlich wie sein Bruder reagieren würde, denn die beiden hätten nicht verschiedener sein können. Während Grant hager und drahtig daherkam, war der zwölf Jahre ältere Donald fast hübsch zu nennen: volle rote Lippen, runde Wangen und welliges blondes Haar. Er war Messdiener gewesen, Grant der Teufelsbraten. Grants erster Tag im Kindergarten ging schnell zu Ende, weil man ihn frühzeitig in einem Taxi nach Hause schickte. An seinem Pullover war eine knappe Aufforderung befestigt: »Schicken Sie diesen Burschen nicht wieder her.« Ein Cousin erinnerte sich: »Er war wie zwölf Kids auf einmal und mit allen Wassern gewaschen.« Aber er sollte nie der höhere Angestellte werden, den sich sein Vater erhoffte. Donald andererseits schien es zu schaffen. Er war gehorsamer und beugte sich den Regeln, gegen die Grant ständig rebellierte, und mit strenger Unterstützung seines Vaters versuchte er, dessen Beispiel zu folgen und schrieb sich an der University of British Columbia für das Studium der Elektrotechnik ein. Er machte sich ganz gut, aber die Genugtuung war kurzlebig: Donald ging so schnell wie möglich von zu Hause fort und kam nur selten zu Besuch.
    Ein Jahr bevor Grant mit dem Holzfällen begann, tauchte Donald wieder auf. Er hatte keine Freunde und keinen Job, nur eine Diagnose: paranoide Schizophrenie. Trotz intensivster Bemühungen seiner Familie verweigerte er jegliche therapeutische Behandlung. Es herrscht wenig Zweifel, dass dieser

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