Am Ende der Wildnis
Sich entlang dieser gesichtslosen Küste zu orientieren ist selbst am helllichten Tag schwierig, aber bei Nacht und unter diesen Wetterbedingungen muss es unmöglich gewesen sein. Es dürfte so dunkel gewesen sein, dass selbst die weißen Schaumkronen kaum zu erkennen waren. Die Temperatur lag etwas über dem Gefrierpunkt, aber der Wind-Kälte-Faktor wird sie auf minus zwanzig gedrückt ha ben. Bei diesen Bedingungen wäre ein normaler Mensch das Risiko eingegangen, schon innerhalb einer halben Stunde Erfrierungen zu erleiden. Hadwin trug nur eine Öljacke und Spülhandschuhe. Er war kein geübter Kajakfahrer, aber selbst wenn er es gewesen wäre, hätte er wohl kaum eine halbe Nacht in dieser Witterung überleben können. Und doch schaffte er es – irgendwie. Irgendwann gegen Mitternacht fand er den Weg zurück nach Prince Rupert.
»Er wartete vor der Tür, als wir öffneten«, erinnerte sich Marilyn Baldwin, Mitinhaberin von SeaSport, wo Hadwin am Tag zuvor Kajak und Ausrüstung gekauft hatte. Baldwin erinnert sich, das Hadwin überrascht schien, wie kalt es in der Nacht geworden war. Darüber hinaus erzählte er ihr, dass er stundenlang bei schwerer See gepaddelt war und doch nicht vorangekommen sei. Mit solchen Brechern könne er fertig werden, sagte er, aber er sei zurückgekommen, um sich warme Kleidung zu kaufen und (auf Anraten von Constable Jeffrey) eine Seekarte der Hecate Strait. Als das Gespräch auf den Baum kam, »wollte er diskutieren«, erinnerte sich Baldwin. »Ich glaube, er war erpicht auf seinen Tag vor Gericht. Er wurde immer aufgeregter. Seine Muskeln vibrierten , als seien sie zum Zerreißen gespannt.«
Baldwin konnte nicht mir Sicherheit sagen, ob es am Stress lag oder an der Unterkühlung, aber sobald er gegangen war, rief sie bei der Polizei an. Hadwin habe sich nichts Unrechtes zuschulden kommen lassen, sagte man ihr, und deswegen könne man nichts tun. Am 13. Februar, als er noch fünf Tage Zeit hatte, seinen Gerichtstermin wahrzunehmen, machte sich Hadwin im Morgengrauen nochmals auf den Weg. Diesmal kehrte er nicht zurück.
Abgesehen von der Kleidung hatte sich Hadwin für die geplante Unternehmung bestens ausgerüstet: Sein Kajak war ein Nimbus »Telkwa«, ein High-End-Modell aus laminierten Kevlarstreifen und Fiberglas, das dafür konstruiert ist, unter schwierigen Wetterbedingungen schwere Lasten über lange Strecken zu transportieren. Ein Seekajak wie der Telkwa ist nicht nur beträchtlich länger als ein Wildwasserkajak, er hat auch einen V-förmigen Rumpfboden, sodass er nicht wie eine leere Bierdose oder ein Floß vom Wind übers Wasser getrieben werden kann, sondern sich quer zum Wind paddeln lässt. Er hat außerdem ein Steuerruder, das mit den Füßen bedient wird und dem Paddler ermöglicht, all seine Energie darauf zu verwenden, das Boot vorwärtszutreiben, ohne mit dem Paddel steuern zu müssen. Hadwins Kajak war sechs Meter lang, und wenngleich so große und schwere Boote bei rauer See höhere Stabilität garantieren, bieten sie auch mehr Angriffsfläche für Seitenwinde und Wellen, die den Bug packen und das Boot aus seinem Kurs drücken. Obwohl der tief liegende Schwerpunkt eines Kajaks sich bei schlechtem Wetter als ein großer Vorzug erweisen kann, lässt sich die Tatsache nicht leugnen, dass es sich doch um ein kleines, leichtes Boot handelt. Auch eine Welle, die nicht höher ist als einen Meter, kann so einen Kajak mühelos zum Kentern bringen, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt kommt und die richtige Fasson besitzt.
Marilyn Baldwin glaubte ebenso wenig wie Constable Jeffrey, dass Hadwin von Todessehnsucht getrieben war. Hadwin hatte einem Journalisten gesagt, er könne die Fahrt in vierundzwanzig Stunden bewältigen, wenn er die Hecate Strait ohne Unterbrechung überquerte. Baldwin hatte jedoch den Eindruck, dass er sehr wohl wusste, was auf ihn zukam, wenn er eine solche Fahrt wagte, und dass er nicht direkt nach Süden und in die Zone der Widerwellen vor Rose Spit paddeln, sondern sich stattdessen von Insel zu Insel vorwärtsbewegen würde, wie es die Haida einst auch getan hatten. So eine Route hätte ihn in einem nordwestlichen Bogen hinauf und hinüber zur Prince of Wales Island gebracht oder vielleicht sogar noch weiter westlich nach Cape Muzon an der Südspitze von Dall Island. Von dort würde er immer noch die letzten sechzig Kilometer über Dixon Entrance sprinten müssen, aber wenn er diese längere Route nahm, ergab sich eine bessere Chance, mit
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