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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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achterlicher See zu paddeln und Widerwellen zu meiden. Unter idealen Umständen würde allein diese letzte Etappe seiner Fahrt nahezu vierundzwanzig Stunden dauern, aber ideale Umstände bieten sich im Februar in Dixon Entrance nicht, besonders nicht in totaler Dunkelheit.
    Am folgenden Morgen, dem 14. Februar, wurde ein weißer Kajak, wie ihn Hadwin benutzte, vor Port Simpson gesichtet, vierzig Kilometer nördlich von Prince Rupert. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich sagen, dass er es war, weil niemand sonst unter derartigen Wetterbedingungen da draußen paddeln würde. An jenem Tag blies der Wind von Süden, mit Böen, die fünfzig Stundenkilometer und mehr erreichten. Die Wellen, die aus Dixon Entrance heranrollten, waren an die fünf Meter hoch. Es war definitiv kein Kajakwetter, aber Hadwin hatte Rückenwind und kam her vorragend voran. Die Frage war nur: Wohin? Für einen beiläufigen Beobachter – und davon gab es an jenem Morgen eine ganze Menge – schien er auf dem Weg nach Alaska zu sein, aber es war eben auch die Route, die ein vorsichtiger (an dieser Stelle ein relativer Begriff) Kajakfahrer wählen würde, wenn er sich von Insel zu Insel nach Masset durchschlagen wollte. Port Simpson markiert den südlichen Eingang des Portland Inlet, an dem die amerikanische Grenze entlangführt. Die vierzig Kilometer lange Strecke von dort nach Cape Fox auf der anderen Seite ist bei den Einheimischen berüchtigt: Nicht nur prallen hier ablandige Fallwinde mit einkommenden Winden aus süd lichen Richtungen zusammen, die Gezeitenströmungen können enorme Geschwindigkeiten von bis zu fünf Knoten erreichen und alle Anstrengungen selbst des stärksten Paddlers zunichtemachen. Wenn überdies südliche Win de, wie sie Hadwin im Rücken hatte, auf ablaufendes Wasser treffen, wird die Mündung des Inlet aufgewühlt zu river chop , wie es die einheimischen Bootsführer nennen – hohe konfuse Wellen, die schnellstens zu Überfallwasser werden wollen. Manchmal scheinen sie den Gesetzen der Physik trotzen zu wollen: Man stelle sich brechende Wellen vor, die drei Meter hoch, aber nur zwei Meter voneinander entfernt sind. »In dem Zeug können wir nicht schleppen«, erklärte Perry Boyle, ein Schlepperkapitän aus Prince Rupert. Boyles größter Schlepper hat zwölfhundert Pferdestärken und wiegt hundert Tonnen. Hadwins Kajak war im Vergleich dazu ein Eisstiel mit der Antriebskraft eines Gold fisches. Obwohl es unbestreitbare Vorteile bietet, leicht und äußerst manövrierfähig zu sein, selbst bei schlechtem Wet ter, verlieren diese doch an Gewicht, wenn man bedenkt, dass Hadwin auf seiner Kajakfahrt konstant Wind und Wellen ausgesetzt war – egal wohin er sich wendete. Ein zu nehmender Halbmond stand am Himmel, was bedeutete, dass die Tiden mit jedem neuen Tag höher wurden, und die starken Winde und der niedrige Luftdruck im Gefolge der Sturmsysteme, die jetzt durch die Strait zogen, dürf ten die Tiden noch höher getrieben haben als normal. Im Laufe der nächsten vier Tage sollte das Wetter zunehmend schlechter werden.
    Erst knapp drei Wochen zuvor hatte Hadwin die einheimische Öffentlichkeit hellhörig gemacht, und doch umgab ihn schon jetzt eine beinahe mystische Aura: Wie Billy the Kid oder Scarlet Pimpernel schien er die Fähigkeit zu besitzen, jederzeit und überall auftauchen zu können. Obwohl vier Tage lang keine Spur von ihm zu entdecken gewesen war, weder zu Wasser noch zu Lande, waren viele Bewohner von Haida Gwaii fest überzeugt, dass der Mörder der goldenen Fichte am 18. Februar morgens um neun Uhr dreißig im Gerichtsgebäude von Masset auftauchen würde. Niemand schien an diesem Morgen sonderlich aufs Wetter zu achten, obwohl die Stürme draußen in der Strait den Regen horizontal durch eine so niedrige Wolkendecke trieben, dass man sie berühren konnte, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte. Wie so oft waren die Inseln nicht zu sehen. Hätten die Kapitäne Pérez, Cook, Vancouver oder Dixon an jenem Morgen nach Land gesucht, wären sie glatt daran vorbeigesegelt. Auch Hadwin mag Schwierigkeiten gehabt haben, die Inseln zu finden, und das nicht nur wegen der schlechten Sichtverhältnisse: In Dixon Entrance türmte sich die See bis zu neun Metern auf.
    Das Gerichtsgebäude von Masset steht landeinwärts im Zentrum von New Masset in einer von Läden gesäumten Seitenstraße. Sportplätze erstrecken sich in Richtung Nordosten, und jenseits davon befindet sich ein ausladendes und verschachteltes

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