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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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wird. Unter solchen Umständen kann eine Leiche fast unbegrenzt intakt bleiben. Vermisste Taucher sind in diesen Gewässern ein Jahrzehnt nach ihrem Verschwinden gefunden worden. Ihre in Neopren gehüllten Leichen streifen noch immer über den Meeresboden wie kopflose Reiter mit Tauchschein.
    Am 4. April erhielt die RCMP in Prince Rupert eine Anfrage nach den zahnärztlichen Unterlagen von Hadwin, aber es ergaben sich keine Übereinstimmungen. Fünf Tage später wurden überall an der Küste Plakate mit einer Ver misstenmeldung verteilt, und am 12. April wurde auf einem Erkundungsflug das Küstengebiet nördlich von Prince Rupert nochmals abgesucht. Hadwin war seit zwei Monaten verschwunden, und die Suche geriet ins Stocken: Die Plakate förderten keine neuen Informationen zutage, und es wurden auch keine neuen Suchaktionen veranlasst. Viele gingen davon aus, dass Hadwin entweder ertrunken oder ins Ausland geflohen war, und so oder so schien die goldene Fichte nun gerächt zu sein. Unterdessen trugen sich außerordentliche Dinge auf Haida Gwaii zu.
    Skilay hatte K’iid K’iyaas »einen fortwährenden Baum« genannt, und unter den Ältesten der Tsiij git’anee gab es einige, die behaupteten, dass die goldene Fichte nicht der erste Baum dieser Art gewesen war, der dort wuchs, sondern eine andere goldene Fichte ihre Vorgängerin gewesen sei. Das ist eine weitere Geschichte, die auf »rationale« Weise schwer zu erklären ist und das Verhältnis zwischen sich und unserem relativ modernen – und linearen – Zeitbegriff infrage stellt. Vielleicht handelte es sich nicht um eine Geschichte, die als bereits geschehen gedacht und daher in die Vergangenheit eingebunden ist; vielleicht war es eine Geschichte in der Haida-Vorstellung, in der die Zeit eher nach dem Muster einer Spirale oder vergleichbar den Jahresringen eines Baumes verläuft. Bei den Völkern der Nordwestküste gibt es eine Redensart: »Die Welt ist so scharf wie eine Messerschneide«, und Robert Davidson, der Massets ersten Pfahl der nachmissionarischen Zeit schnitzte, stellt sich diese Messerschneide als Kreis vor. »Wenn man auf dem Grat des Kreises lebt«, erläuterte er in einem Dokumentarfilm, »ist das der gegenwärtige Augenblick. Was sich innerhalb befindet ist Wissen, Erfahrung: die Vergangenheit. Was außen ist, muss noch erfahren werden. Die Messerschneide ist so schmal, dass man entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft leben kann. Der wahre Trick besteht jedoch darin«, sagt er, »auf der Schneide zu leben.« Genau dort verbringt Davidson, der berühmteste lebende Künstler der Haida, den größten Teil seiner Zeit, und dort muss man sich vielleicht auch aufhalten, um die Geschichte der goldenen Fichte wirklich begreifen zu können. Die Vorstellung, dass es an dieser Stelle am Yakoun mehr als nur eine goldene Fichte gibt, mag vielleicht ebenso eine Version der Vergangenheit gewesen sein wie eine der Zukunft, denn jetzt hatte es den Anschein, als würde die goldene Fichte aufs Neue erwachsen.
    Die Haida hatten nichts davon gewusst, aber vor mehr als dreißig Jahren waren Mythos und Wissenschaft auf Kollisionskurs gebracht worden, und am 25. Januar 1997 prallten sie im Kopf eines Engländers namens Bruce Macdonald aufeinander. An jenem Morgen las MacDonald, der Direktor des Botanischen Gartens der Universität von British Columbia, auf der Titelseite der Vancouver Sun eine be unruhigende Schlagzeile: VERLUST DES LEGENDÄREN BAUMES MACHT EINWOHNER ZORNIG .
    Die University of British Columbia breitet sich acht Kilometer westlich von downtown Vancouver auf einem breiten Streifen besten Grunds und Bodens an der Spitze einer Halbinsel aus. Der einhundertzehn Acres große Botanische Garten liegt am Rand des Campus und bietet neben mehr als zehntausend Pflanzenarten auch eine eindrucksvolle Aussicht auf die Georgia Strait, Vancouver Island und die Olympic Mountains im Staat Washington. Als Macdonald an jenem ungewöhnlich klaren und frostigen Morgen den Artikel in der Sun las, fiel ihm plötzlich das schattige und waldige Hangstück im Gartenteil mit den heimatlichen Pflanzen ein. Dort wuchs ein Paar zwei Meter hoher Sitka-Fichten, deren Nadeln die eigentümliche Neigung hatten, sich goldgelb zu färben. Trotzdem waren sie in einer derart eindrucksvollen Kulisse leicht zu übersehen, und weil sie im Schatten wuchsen, waren ihre goldfarbenen Eigenschaften bestenfalls uneinheitlich zu nennen. Da sie auch noch die Veranlagung besaßen, zur Seite zu

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