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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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MacMillan Bloedel, »wäre uns nur noch der Stumpf übrig geblieben.«
    In den 1960er-Jahren verstand man sich noch nicht sonderlich gut auf die künstliche Vermehrung der Holzarten der West Coast, und die Sitka-Fichte wurde schon deshalb nicht näher erforscht, weil sie zu jener Zeit kommerziell keine Priorität besaß. Die bevorzugte Vermehrungsmethode bestand darin, Stecklinge – Edelreiser – eines gewünschten Baumes entweder auf einen anderen Wurzelstock zu pfropfen oder direkt einzupflanzen. Keines der beiden Verfahren war sonderlich elegant, und im Allgemeinen begann es mit einem Schuss aus einem Jagdgewehr, denn wollte man sich Stecklinge von einem großen Baum verschaffen, schoss man sie einfach ab. Besonders Professor Sziklai war für seine exzellente Treffsicherheit bekannt. Mit seiner Remington-Repetierflinte konnte er aus über hundert Metern Entfernung einzelne Zapfen vom Baum holen. Die Züchter wussten jedoch vor vierzig Jahren noch nicht, dass jeder Teil einer Fichte seine genetischen und hormonellen Instruktionen akkurat interpretiert. Je älter eine Fichte wird, desto schwerer ist es – wie bei einem Hund –, ihr neue Kunststücke beizubringen, und wie ein Mitglied eines streng strukturierten Kastensystems vergisst auch ein Zweig niemals seinen Platz in der Rangordnung. Wenn also das Edelreis von einem niedrigen Ast stammt, der aus einem Stamm wächst, der so alt ist wie die Fichte, wird er fortfahren, seine Mission zu erfüllen, ebendieser Ast zu sein, selbst wenn er auf einen Wurzelstock fremder Art aufgepfropft oder vertikal gepflanzt wird. Schließlich wurde entdeckt, dass Äste in nächster Nähe der Baumspitze eher gewillt waren, sich auf eine neue Rolle einzustellen – die eines auf wärts wachsenden Haupttriebes oder Stamms (was die Züch ter im Allgemeinen auch anstreben). Wenn die Spitze einer Hemlock, einer Cedar oder einer Fichte vom Wind abgebrochen wird, sieht man deswegen oft, dass die obersten, unversehrt gebliebenen Äste sich in die Höhe biegen, um den verlorenen Haupttrieb zu ersetzen, und dem Baum dadurch das Aussehen eines riesigen Kandelabers verleihen.
    Sziklai entschloss sich, seine Stecklinge mit einem Hormon zu behandeln, das die Wurzelbildung stärken sollte, und sie nicht aufzupfropfen, sondern direkt in die Erde zu »setzen«. Doch das Ergebnis war entmutigend. Von den zwei Dutzend gepflanzten Stecklingen schlug nur die Hälfte Wurzeln, und von da an verschlechterten sich ihre Zukunftsaussichten immer mehr. Laut einem Newsletter von MacMillan Bloedel aus dem Jahr 1974 erhielten sich trotz »gewissenhafter Pflege und Aufmerksamkeit« nur drei dieser ursprünglichen Stecklinge die »goldene Färbung«, und keiner von ihnen wuchs normal schnell. »Der Natur«, stand da zu lesen, »scheint es zu widerstreben, einen seltenen und wunderschönen Fehler zu wiederholen.« (Einer dieser goldenen Klone wurde heimlich H. R. MacMillan überreicht, ging aber schon bald darauf ein.) Obwohl Sziklai mehr als einen Versuch unternahm, überlebten nur sehr wenige Bäume. Trotz seines Alters von vierzig Jahren ist der robusteste Baum gerade mal sechs Meter hoch und wächst einzig und allein deswegen senkrecht, weil er während seiner ersten zehn Lebensjahre an einem Pfahl befestigt war. Zweifellos fehlte etwas: Naheliegende Vermutungen gingen von Mangel an Feuchtigkeit und zu wenig Schutz unter einer Wolkendecke aus, da die meisten Stecklinge im Süden von British Columbia gepflanzt worden waren. Aber vielleicht gab es auch ein viel schwerer zu definierendes, wenn nicht gar unsagbares Ingredienz.

KAPITEL ZWÖLF
    Das Geheimnis
    Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
    Und grün des Lebens goldner Baum.
    Johann Wolfgang von Goethe, Faust
    A us physikalischer Sicht sind wir alle Rebellen, weil wir zeit unseres Lebens die Kräfte der Gravitation und der Thermodynamik untergraben, zwei der fundamentalen Gesetze, denen sich alles Irdische letztlich stellen muss. Aber der Baum ist das großartigste lebendige Symbol dieser zweifachen Auflehnung.
    Bäume sind gleichzeitig foto- und geotropisch, d. h. sie sind so programmiert, dass sie nicht nur den kürzesten Weg zur Mittagssonne suchen, sondern sich auch direkt der Erdanziehungskraft widersetzen, die sie nach unten zu ziehen versucht. Aus diesem Grund sind die meisten Bäume gerade, gut ausbalanciert und verhältnismäßig hoch. Mehr noch, sie verfolgen diese radikalen Ziele unermüdlich, in manchen Fällen jahrtausendelang. Im Hinblick

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