Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
das erst Charles Darwin in England und dann die Welt erschüttert – jenes heute verschollene Manuskript, das Wallace zum Mitentdecker der Theorie von der gemeinsamen Abstammung der Arten durch natürliche Auslese werden lässt. Sein Wettlauf mit Darwin indes hat lange vor der Aru-Episode begonnen – und Wallace kam nicht unvorbereitet.
Anfänge –
Die Evolution eines Evolutionisten
(1823 –1848)
Eines der Missverständnisse um Alfred Russel Wallace beginnt bereits bei seiner Geburt und Familie. Doch muss man wohl standesbewusster Brite sein, um jenen hauchdünnen Grat zwischen »lower middle class« und »upper lower class« verlässlich ausmachen zu können, den einige seiner britischen Biographen betonen. Uns erinnert dies einmal mehr an die von Jane Austen ebenso meisterhaft wie beklemmend beschriebenen, zudem von ihr selbst auch gelebten Verhältnisse im damaligen England, als die georgianische Epoche zu Ende geht, es zu politischen wie sozialen Umbrüchen kommt, aber das ruhmreiche viktorianische Zeitalter erst noch anbrechen soll. In einer Gesellschaft, in der, wer auf sich hält, den Tee aus Porzellan trinkt, das man natürlich bei Wedgewood in London erstanden hat, und die schwarzen Teeblätter ausschließlich bei Twinings ordert; in einer solchen Gesellschaft entscheiden, kein Zweifel, Geburtsstand und Klassenzugehörigkeit über alles oder nichts im Leben. Wie Charles Darwin ist auch Wallace ein Kind einer Zeit, als das kultivierte Bürgertum, dem beide gleichermaßen entstammen, die Nähe zum aristokratischen Müßiggang sucht; in der Schnabelform und Dekor einer bei der »tea time« zum Einsatz kommenden Teekanne untrügliche Zeichen nicht nur für Lebensstil sind, sondern Auskunft darüber geben, welcher fein lamellierten Schicht der Gesellschaft der Teetrinker angehört.
Andere Autoren auf der Suche nach Wallace’ Herkunft, zumal wenn sie jenseits des Ärmelkanals oder gar Atlantiks weniger sensibel auf Klassenunterschiede achten, begnügen sich mit dem Hinweis darauf, dass unser Held der Geschichte aus einer gebildeten Mittelklasse-Familie stammt, mit der es finanziell bergab geht. Eine »middle-class family in decline and of modest means« haben britische Historiker das dezent genannt oder es als »geenteel poverty« bezeichnet, so etwas wie vornehme Verarmung. In jedem Fall sei Wallace’ Familie »unremarkable«, nicht weiter bemerkenswert. Für andere wiederum ist die Standeszugehörigkeit nicht eine Frage des Vermögens und Einkommens, vielmehr eine Frage der sozialen Identität. Ob in einer Familie Bücher und Klavier zu finden sind und auch benutzt werden oder wie man mit Messer und Gabel umgeht, sagt auch damals mehr aus als nur Geld. Wie auch immer; wichtig für uns ist festzuhalten, dass Wallace nicht einer einfachen Familie der damaligen Arbeiterklasse, sondern einer beinahe gänzlich mittellosen Familie der unteren Mittelschicht angehört. Was für ihn wohl nur wenig tröstlicher gewesen sein dürfte. Wichtig auch, dass zwischen Darwin und Wallace keineswegs soziale Welten liegen, wie oft fälschlich kolportiert wird. Wenn es darum geht, spätere Ereignisse besser zu verstehen, ist der Umstand von Bedeutung, dass Wallace’ familiärer Hintergrund ihm durchaus zu einem passablen Start verhilft; wenngleich nicht in einer derart privilegierten Position wie der vierzehn Jahre vor ihm in eine wohlhabende Arztfamilie hineingeborene Charles Darwin.
Alfred Russel Wallace kommt am 8. Januar 1823 in Usk zur Welt, einem Dörfchen in der Grafschaft Monmouthshire, ganz im Westen Englands im ländlichen Wales gelegen. Sein Vater Thomas Vere Wallace ist schottischer Abstammung. Einer unbestätigten Familienlegende nach sollen seine Vorfahren angeblich sogar bis zum berühmten William Wallace zurückgehen – dem Freiheitskämpfer und Volkshelden, der die Schotten Ende des 14. Jahrhunderts zum Widerstand gegen den englischen König Edward I. aufrief (sein Leben diente als Vorlage für den wenig faktentreuen, aber dramatischen Spielfilm »Braveheart«, mit Mel Gibson in der Titelrolle). Nun, Thomas Vere Wallace ist friedlicher, zudem bei einem Anwalt zum Rechtsberater ausgebildet; er praktiziert aber nicht. Er liebt weder seinen Beruf noch überhaupt stetes Arbeiten, sondern lebt von einem kleinen ererbten Vermögen, das ihm zunächst durchaus Zinsen einbringt. Von regem Geist, geschichtlich und künstlerisch interessiert, frönt Thomas Vere Wallace meist dem Müßiggang, den er erst beendet,
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