Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
das Wo und Wann vor, aber nicht das Wie. Den eigentlichen Mechanismus des Artenwandels erkennt er noch nicht.
Es ist den weiteren Ereignissen geschuldet, dass die tatsächliche Bedeutung des Sarawak-Artikels nur selten wahrgenommen oder später gar gewürdigt wird. Dabei ist Wallace’ erster Aufsatz zugleich eine notwendige Vorstufe und eine Ergänzung der späteren Erkenntnisse. Weil dies häufig vergessen wird, erscheint sein Aufsatz aus Ternate 1858 umso zufälliger, ja gleichsam aus dem Nichts kommend. Das aber ist historisch falsch; und auch für Darwin kam Wallace’ Manuskript keineswegs so überraschend wie oft dargestellt.
Kurzer Szenenwechsel – Down House, Kent, England: Wir haben nichts verpasst. Einmal erst sind sich Darwin und Wallace an jenem nicht näher bestimmten Tag, kurz vor dessen Abreise in den Archipel, im Britischen Museum in London begegnet. Auf keinen der beiden hat dies einen bleibenden Eindruck gemacht. Nachdem Darwin seine erste handschriftliche Skizze von 35 mit Bleistift geschriebenen Seiten zwei Jahre später zu einem ausführlichen Essay entwickelt hat, versieht er diesen im Juli 1844 – da ist Wallace noch Lehrer in Leicester – mit einer testamentarischen Verfügung an seine Frau Emma und verstaut das Manuskriptpaket in seinem Haus im Örtchen Downe in der Grafschaft Kent, wo er bis zu seinem Lebensende bleibt. Seit dem Erscheinen von Robert Chambers’ »Vestiges« im gleichen Jahr ist die Stimmung in der britischen Öffentlichkeit, was Entwicklungstheorien angeht, nicht sehr ermutigend, findet Darwin. Was Wallace begeistert und für die Entwicklungstheorie eingenommen hat, erschreckt Darwin, der bereits eine bessere Erklärung gefunden hat.
Darwin aber befürchtet zu dieser Zeit, nicht als sachkundiger Kenner des Artenwandels ernst genommen zu werden. Zwar hat er sich mit seinem Bericht von der »Beagle« -Reise, der 1845 in der zweiten überarbeiteten Auflage erscheint, ein Denkmal gesetzt; er hat sich indes bis dahin vor allem als Geologe einen Namen gemacht. Darwin widmet sich daher weitere zwei Jahre dem Abschluss dieser geologischen Arbeiten, etwa über die Hebung des Andengebirges und das damit verbundene Absinken von Atollen im Pazifik, das Korallenriffe entstehen lässt, wie er glaubt (und er irrt sich nicht). Alles sehr einsichtsvolle und respektable Arbeiten, doch noch immer nicht genug für seine Reputation, denkt Darwin offenbar. Also versenkt er sich in die minutiöse morphologische und taxonomische Studie winziger Meeres-Krebschen – der Cirripedier oder Rankenfußkrebse. Darwin dürfte selbst am allerwenigsten damit gerechnet haben, dass ihn diese aufwendige Untersuchung letztlich die kommenden acht Jahre beschäftigen würde. Mit einem Preis der Royal Society für seine Monographie über diese sessilen Meereskrebse gekrönt, beendet er schließlich im September 1854 seine Arbeit daran. Jetzt, mit 45 Jahren, besitzt er die Autorität, sich zur Artenfrage zu äußern. Darwin kann nicht ahnen, dass Wallace seit Jahren ebenfalls auf der Suche nach einer Lösung für das Rätsel ist; und dass Wallace nur wenige Wochen später in Sarawak einen ersten Essay mit seinen Überlegungen verfasst.
Darwins Problem ist zu dieser Zeit noch ein ganz anderes. Der Exkurs in die Zoologie aberwitzig gestalteter Meeresorganismen lässt ihn daran zweifeln, dass überhaupt jemand sicher zwischen Arten, Unterarten und Varietäten zu unterscheiden vermag. Darwin will dieses Variieren bei den verschiedenen Individuen einer Art näher studieren und beginnt, sich mit der Zucht von Tauben und anderen domestizierten Tieren, vom Kaninchen bis zur Kuh, zu beschäftigen. Bald entdeckt er bei Tauben- und Viehzüchtern eine wichtige Parallele zu den Vorgängen, die er auch in der Natur erkennt. Ihm dient die künstliche Zuchtwahl als hilfreiche Analogie für seine Idee einer natürlichen Auslese. Selektion ist schließlich überall. Beharrlich sichtet Darwin die Befunde dazu. Er experimentiert in dieser Zeit auch selbst; etwa um herauszufinden, wie Tiere und Pflanzen sich verbreiten. So versenkt er die Samen verschiedener Pflanzen in künstlich angerührter Salzlösung, um zu überprüfen, wie salzwasserresistent sie sind und ob sie auch nach langem Aufenthalt im Meerwasser, auf einer Insel oder an einer fernen Küste angekommen, noch auskeimen könnten. Nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, sondern im populären »Gardener’s Chronicle« berichtet Darwin von seinen Einblicken zur
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