Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Milieu bedingt nicht immer bestimmte Arten. Obgleich also die äußeren Bedingungen in den amerikanischen und asiatischen Tropen durchaus übereinstimmen, bemerkt Wallace mit Erstaunen, dass die Fauna der Inseln im Archipel insgesamt von der amerikanischen gänzlich verschieden ist.
Statt also weiter der oft verbreiteten Behauptung zu folgen, dass gleiche äußere Bedingungen gleiche Arten hervorrufen, bringen ihn die räumlich und zeitlich vertretenen Arten zur Überzeugung, dass Arten sich wandeln. Klima und Boden haben keinen Einfluss darauf, welche Arten in einem Lande leben, so argumentiert er in seiner Arbeit. Vielmehr entscheidet allein die Einwanderungsmöglichkeit schon vorhandener benachbarter Arten. Wenn sich auf Inseln lebende Arten von den Festlandsarten deutlich unterscheiden, ist das dadurch zu erklären, dass die eingewanderten Arten nachträglich abgeändert wurden. Keineswegs aber sind dies jeweils unabhängige Neuerschaffungen, wie die Schöpfungslehre annimmt.
Der Schlüssel zur Artenfrage liegt mithin im Vorkommen und der Verbreitung lebender Arten. Wallace bemerkt aber, »dass diese Tatsachen nie angemessen als Indizien für die Entstehung der Arten ausgewertet worden sind«. So selbstverständlich uns das heute erscheint, was er in seinem Sarawak-Artikel ausführt; so ungewohnt und neuartig ist es im Jahre 1855. Vom Monsunregen auf Borneo zum Nachdenken verdammt, findet Wallace des Rätsels Lösung. Für die Verbreitung nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ist die gemeinsame Abstammung verantwortlich. Damit niemand sein just entdecktes Naturgesetz der Arten übersieht, wiederholt Wallace es lieber nochmals, in Kursiv, versteht sich: »Jede Art ist sowohl räumlich als auch zeitlich aus einer vorher existierenden, nahe verwandten Art in Erscheinung getreten.«
Dagegen vermag der Glaube an Abertausende von speziellen Schöpfungsakten die beobachteten Vorkommen der Arten nicht schlüssig zu erklären. Aus der Verbreitung von Tieren und Pflanzen leitet Walace ab, dass deren Vorfahren zusammen mit dem jeweiligen Gebiet ihres Vorkommens getrennt werden, sie fortan auch getrennte Wege hinsichtlich ihrer Entwicklung nehmen und sich so die Arten verändern. Ähnliche und eng verwandte Arten erscheinen deshalb im geographischen Raum und in der geologischen Zeit nebeneinander, weil sie von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Und wenn alle Arten miteinander zusammenhängen und jede Art jeweils aus einer nahe verwandten, ähnlichen Art entstanden sein muss, ist auch die Entstehungsgeschichte des Lebens eine Folge von graduellen, kontinuierlichen Entwicklungen. Damit beschreibt Wallace einen heute allseits bekannten und akzeptierten Vorgang der Artenbildung. Und mit völliger Klarheit erkennt er, dass diese Entwicklung zu einer reich verzweigten Abstammungslinie führt, zu einem Stammbaum, dessen Metapher er zur Illustration seiner Ideen erstmals explizit verwendet (wir kommen darauf zurück).
Mag Wallace auch lange Zeit vielleicht selbst nicht bemerkt haben, dass er eine Grenzlinie zwischen idealistischer und mechanistischer Naturauffassung überschreitet – sein Versuch, die Entwicklung der Gedanken anderer Naturforscher nachzuvollziehen, wandelt sich zur Annahme einer Entwicklung der Organismen selbst. Ohne dass dies bei ihm schon so heißt, steht dabei die Biogeographie Pate für die Evolutionsbiologie. Deshalb ist sein Sarawak-Aufsatz mehr als nur ein wunderbar klar formulierter und origineller Artikel. Er ist eine historische Arbeit, die als die eigentliche Geburtsstunde der Evolutionsbiologie gelten sollte, wenigstens der evolutionären Biogeographie. Denn sie erläutert erstmals den Zusammenhang zwischen Vorkommen und Entstehung von Arten und wertet die Verbreitung der Organismen als Hinweis auf die gemeinsame Abstammung. Oder anders ausgedrückt: Wenn Wallace und Darwin ihre Theorien kurz darauf nicht in anderen Arbeiten noch einen entscheidenden Schritt weiter entwickelt hätten, dann wäre Wallace’ Aufsatz aus dem Jahre 1855 heute klarer als Gründungsdokument der Evolutionstheorie erkennbar; ebenso wie sein »organic law« ein Pfeiler der Vorstellung von der Veränderlichkeit der Arten ist, solider noch als vielleicht die Ideen Lamarcks oder von Chambers. Es fehlt allerdings, wie gesagt, noch ein entscheidendes Puzzleteilchen. Weder die Geologie noch die Geographie für sich können erklären, wodurch die Entwicklung der Arten vorangetrieben wird. Wallace schlägt im Sarawak-Aufsatz
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