Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
schluckte. Sie sprach über ihren toten Mann, und etwas in ihr sträubte sich heftig, etwas Schlechtes über ihn zu sagen, und doch erschien ihr sein Verrat an diesem letzten Abend noch immer als eine ungeheuerliche Tat. »Ihr Vater stellte sich nicht auf ihre Seite. Er solidarisierte sich … mit den anderen, verstehen Sie? Mit Patricia. Gegen sein eigenes Kind. Trotz der vielen Reibereien in der letzten Zeit hat sie ihren Vater immer vergöttert. Ich glaube, sie kann bis jetzt nicht fassen, was er getan hat.«
»Was hätte er nach Ricardas Meinung tun sollen?«
»Das, was er auch nach meiner Meinung hätte tun sollen«, sagte Jessica. »Aufspringen. Patricia das Tagebuch aus der Hand reißen. Ihr in schärfster Form klarmachen, daß sie etwas ganz Unmögliches getan hat - in dem Tagebuch zu lesen, es an sich zu nehmen, nun daraus vortragen zu wollen. Statt dessen hat er Patricia gewähren lassen und hat ihr damit gestattet, seine Tochter gewissermaßen öffentlich vorzuführen. Es hat mich nicht im geringsten gewundert, daß Ricarda danach nicht mehr auffindbar war.«
Die Beamtin blickte wieder in ihre Notizen. »Im Gespräch mit Superintendent Norman sagten Sie, bei den vorgelesenen Tagebucheintragungen handelte es sich um Passagen, in denen Ricarda ihre Romanze mit Mr. … Mr. Keith Mallory beschrieb. Ist das richtig?«
»Ja«, sagte Jessica. Leon hatte sie darauf angesprochen, ob man der Polizei sagen müsse, daß Ricardas Tagebuch offenbar an zahlreichen Stellen das Verlangen des jungen Mädchens wiedergab, die Bewohner von Stanbury House tot zu sehen, aber Jessica hatte sich dagegen entschieden. Instinktiv und spontan hatte sie das ja bereits während ihrer Unterredung mit Norman getan.
»Es schafft nur Verwirrung«, hatte sie zu Leon gesagt, »denn wir beide sind uns ja wohl einig, daß Ricarda als Täterin nicht in Frage kommt und daß die pubertären Aggressionen, die sie in Worte gefaßt hat, für ihr Alter durchaus normal sind. Wir brauchen das nicht breitzutreten.«
Leon, für den der Täter ohnehin feststand, hatte sofort eingewilligt. Evelin, die ebenfalls anwesend war, hatte gedankenverloren vor sich hingestarrt, Jessicas Ausführungen jedoch nicht widersprochen.
Die Beamtin notierte sich etwas und nickte dann. »Ich habe vorerst keine Fragen mehr. Ich werde jetzt Mr. Keith Mallory aufsuchen und mit ihm sprechen. Vielleicht ergeben sich ja dabei noch ein paar interessante Aspekte.« Sie grüßte und verließ das Zimmer.
Ich werde hier drinnen noch verrückt, dachte Jessica.
Sie legte sich auf ihr Bett. Im Fenster konnte sie den blauen Himmel sehen. Ein quadratisches Stück davon. Sie dachte an Alexander und hoffte auf die Tränen, die ihre Erstarrung lösen sollten.
Sie mochten sich noch immer nicht einstellen.
Leon kam am frühen Abend zurück. Ein Polizist, der ihn begleitet hatte, bahnte ihm den Weg ins Haus. Leon sah grau und müde aus. Jessica fing ihn auf der Treppe ab.
»Wie geht es Sophie?«
Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nicht gut. Die Ärzte können immer noch nicht sagen, ob sie es schaffen wird.« Er wirkte verbittert. »Einer von Normans Leuten lungert vor der Intensivstation herum. Den interessiert gar nicht, wie es dem Kind geht, der giert nur darauf, daß sie aufwacht und ihm sagen kann, wer das getan hat. Für die ist sie einfach nur ein wichtiger Zeuge - der wichtigste Zeuge überhaupt.«
»Leon, die tun nur ihre Arbeit«, entgegnete Jessica leise, »und wir alle wollen doch, daß der Täter gefaßt wird.«
»Der Täter heißt Phillip Bowen, und ich frage mich, wie noch irgend jemand daran zweifeln kann!« sagte Leon aggressiv.
Jessica legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Dafür spricht manches, das stimmt, aber noch gibt es keinen Beweis. Du weißt doch, wie schwer es sein kann, einzig über Indizien einen Schuldspruch bei Gericht zu erwirken. Die Aussage der einzigen Überlebenden, und wenn es ein kleines Mädchen ist, hätte da ein ganz anderes Gewicht.«
Er nickte, und dann sank er plötzlich auf eine der Treppenstufen und barg sein Gesicht in den Händen, und seine breiten Schultern waren nach vorn gekrümmt und zitterten vor Schluchzen. Er weinte und weinte, ohne ein Wort zu sagen, und Jessica kauerte hinter ihm, legte beide Arme um ihn, versuchte ihm Wärme und Halt zu geben. Sie störte seinen Schmerz nicht mit Worten; ohnehin hätte es nichts gegeben, was nicht banal geklungen hätte im Angesicht einer solchen
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