Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
keine wirklichen Sorgen machte. Jedenfalls nicht auf Verstandesebene. Irgendein unterschwelliges Gefühl hingegen verursachte ihr Herzklopfen. Machte sie nervös. Nicht,
was Evelins Unschuld anging, die stand für sie auf jeden Fall fest. Aber Inspector Lewis machte ihr Angst. Und Superintendent Norman tat nichts, ihre Angst zu zerstreuen, ganz im Gegenteil.
Es war dunkel geworden draußen, und im Zimmer brannte nur die kleine Lampe, die neben dem Bett stand. Die Glühbirne der Deckenlampe hatte ihren Geist aufgegeben, und bislang war niemand erschienen, sie auszuwechseln. Im Dämmerlicht konnte Jessica erkennen, wie bleich und angespannt Leons Gesicht war, und wie gestreßt und übermüdet Superintendent Norman aussah. Barney war ein paarmal unruhig hin und her gelaufen; ihm fehlten die langen Spaziergänge, er hatte zu wenig Bewegung, zu wenig Luft und Sonne. Schließlich sah er resigniert ein, daß auch die beiden Männer nicht mit ihm hinausgehen würden, und rollte sich seufzend auf seiner Decke zusammen.
»Sie haben gegen Phillip Bowen nichts in der Hand?« fragte Leon nun ungläubig. »Reicht es Ihnen denn nicht, daß er …«
Norman hob beschwichtigend die Hand. »Mr. Roth, ich verstehe ja Ihre Sicht der Dinge durchaus. Und daher haben wir uns sehr lange und ausgiebig mit Mr. Bowen unterhalten. Er hat eine fixe Idee, was seine Herkunft betrifft und daraus sich ableitende Ansprüche, das stimmt, aber dennoch …« Er zögerte. »Er ist nicht verrückt«, sagte er schließlich, »das sagt mir einfach meine Erfahrung und Menschenkenntnis. Er hat durchaus seinen Verstand beieinander, und was er will, ist Anerkennung. Die Anerkennung, daß er Kevin McGowans Sohn ist. Für diese Anerkennung wird er kämpfen, aber nicht, indem er fast ein halbes Dutzend Menschen ermordet. Weil ihm das nämlich gar nichts bringt. Er kommt dadurch nicht einen Schritt weiter. Er hat vor, eine Exhumierung Kevin McGowans durchzusetzen, und …«
»Und das nennen Sie nicht verrückt?« fragte Leon entrüstet. »Ab wann ist denn dann bei Ihnen jemand ein Verrückter?«
Norman strich sich über die vor Müdigkeit geröteten Augen.
»Ich gebe ja zu, daß er sich da in etwas hineingesteigert hat. Daß er eine gewisse Besessenheit an den Tag legt. Aber trotz allem
ist er überaus zielorientiert, und die Schritte, die er für die Erreichung seines Zieles plant, sind nicht verrückt! Sie mögen uns radikal erscheinen, aber wenn man die Dinge von seiner Warte aus betrachtet, tut er das einzige, was er überhaupt tun kann. Er hat ein großes Problem damit, von seinem Vater nie angenommen worden zu sein, und er versucht, dieses Problem für sich zu lösen. Daran kann ich noch keinen Psychopathen erkennen. «
»Ich wußte gar nicht, daß Sie im Nebenberuf Psychologe sind, Superintendent Norman«, sagte Leon zynisch, »denn sonst wären Sie wohl kaum derart sicher, was Ihre Analyse der Persönlichkeitsstruktur von Phillip Bowen angeht!«
»Ich habe bereits eine ganze Reihe von Verbrechen aufgeklärt, Mr. Roth.«
»Aber keines von diesem Ausmaß.«
Norman nickte. »Dann lassen Sie uns zu den Fakten kommen - denn die sind es letztlich, worauf wir uns stützen müssen. Zum einen: Mr. Bowen trug heute, als wir ihn abholten, dieselbe Kleidung, die er auch gestern mittag trug, als er im Park von Stanbury House herumstreifte. Das ist von Evelin Burkhard bestätigt worden. Wir haben ihn gebeten, sich etwas anderes anzuziehen und uns die Sachen zu überlassen. Abgesehen davon, daß es schon mit bloßem Auge erkennbar war, so hat auch die technische Untersuchung ergeben, daß sich nicht ein einziger Spritzer Blut auf Hose oder Pullover befand. Und es ist vollkommen ausgeschlossen, daß jemand hingehen und vier Leute mit einem Messer töten und einen weiteren Menschen schwer verletzen kann, ohne auch nur das geringste bißchen Blut abzubekommen. Ich denke, das ist auch Ihnen klar.«
»Mein Gott, wie sicher will Evelin denn sein, daß es wirklich dieselben Klamotten waren? Jeans ist Jeans, und dunkle Wollpullover habe ich auch mehrere! Er hat seine blutbefleckte Kleidung vernichtet und etwas Ähnliches angezogen, und Sie sind so naiv und fallen auf diesen simplen Trick herein!«
»Okay. Auf der Tatwaffe befinden sich keinerlei Fingerabdrücke von ihm und …«
»Abgewischt! Der Kerl ist verrückt, aber nicht blöd!«
»… und er hat für die Tatzeit ein Alibi.«
Leons Schultern, zuvor straff vor Wut und Empörung, sanken ein wenig nach vorn.
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