Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Sie wimmerte wie ein Kind, konnte sich nicht bewegen. Sie hatte einen schweren Schock, und ich bin sicher, ganz gleich, was sie über den gestrigen Tag auch sagt, es muß alles unter dem Vorbehalt betrachtet werden, daß sie über eine lange Zeitphase absolut nicht Herrin ihrer Sinne war.«
»Ich denke, daß sie auch die Tatwaffe gefunden hat«, sagte Leon, »vielleicht direkt bei einem der Opfer, und daß sie sie an sich genommen, später dann weggeworfen hat. Als Täterin hätte sie ja wohl die Fingerabdrücke abgewischt.«
»Vorausgesetzt«, sagte Norman, »sie war während der Tat bei klarem Verstand. War sie in einem Moment des Wahnsinns, hätte sie sicher nicht an so etwas wie Fingerabdrücke gedacht - oder daran, ihre blutige Kleidung zu beseitigen.«
»Halten Sie es denn überhaupt für möglich, daß eine Frau dieses Verbrechen begangen haben kann?« fragte Jessica. »Ich
meine, allein von ihren Kräften her. Unter den Opfern sind auch zwei große, kräftige Männer. Es kann nicht ganz einfach gewesen sein, sie umzubringen.«
Norman schüttelte den Kopf. »Das war keine Frage der Kraft. Alle Opfer sind überrascht worden, und zwar von hinten. Tim Burkhard suchte offenbar gerade im unteren Bereich eines Küchenschranks herum, jedenfalls lag er direkt vor dessen geöffneter Tür. Mrs. Roth kniete an dem Blumentrog. Mr. Wahlberg saß auf einer Bank, döste vielleicht vor sich hin. Das Mädchen Diane lag bäuchlings auf dem Bett und las. Einzig die kleine Sophie hatte wohl etwas bemerkt, versuchte, sich zu wehren und wegzulaufen. Ansonsten hat ja niemand etwas von Evelin befürchtet oder Böses erwartet.«
»Ich finde Ihre Theorie völlig absurd«, sagte Leon. »Ich meine, selbst wenn es keiner allzu großen physischen Kraftanstrengung bedarf, jemandem von hinten die Kehle durchzuschneiden, so besteht da doch eine psychische Hemmschwelle, die kaum zu überwinden sein dürfte. In lebendes Fleisch hineinschneiden, noch dazu an der Halsschlagader… das ist… das ist …« Er suchte nach Worten, die wiedergeben sollten, für wie völlig ausgeschlossen er es hielt, daß Evelin dies hatte tun können, aber es gab wohl nichts, was seiner Entrüstung über diesen Verdacht wirklich hätte Ausdruck verleihen können. »Das ist absurd«, wiederholte er schließlich seine Anfangsworte.
Norman zeigte sich unbeeindruckt. »Wenn Sie meinen Job hätten, Mr. Roth, würden Sie irgendwann absolut nichts mehr von dem, was Menschen tun, noch für absurd halten. Meine Erfahrung hat mich zu der tiefen Überzeugung gelangen lassen, daß es unter bestimmten Umständen überhaupt nichts gibt, was nicht jeder von uns in der Lage wäre zu tun.«
»Und welche bestimmten Umstände waren das bei Evelin?« fragte Jessica.
Superintendent Norman seufzte tief. »Mr. Bowen hat uns da einen interessanten Hinweis gegeben«, begann er, »er …«
»Er wird Ihnen sicher viele interessante Hinweise geben, wenn es darum geht, den Verdacht von sich auf andere zu lenken«, warf Leon ein.
Norman wandte sich ihm zu, und in seinem Gesicht stand eine Härte, die Jessica verriet, daß dieser stets so verbindliche Mann ein nicht zu unterschätzender, gefährlicher Gegner sein konnte.
»Mrs. Burkhard ist eine schwer depressive Frau«, sagte er. »Ich denke, das ist nicht zu übersehen, und das ist auch Ihnen seit längerem klar?«
Er schien auf diese Frage, die eigentlich eine Feststellung war, keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr sogleich fort: »Als Mr. Bowen gestern im Park von Stanbury House mit ihr sprach, schien sie ihm völlig in sich zurückgezogen, weltabgewandt, tief versunken in düstere Gedanken. Mr. Bowen hatte den Eindruck, sie nicht wirklich erreichen zu können, so als befinde sie sich in einer Welt, in die niemand ihr folgen könnte. Wörtlich sagte Mr. Bowen: ›Ihre Verzweiflung war so greifbar wie eine hohe Wand, die vor einem steht.‹ Es muß beängstigend gewesen sein.«
Greifbar wie eine Wand, dachte Jessica, ja, so habe ich es auch oft empfunden. Eine dichte, unüberwindliche Verzweiflung.
»Und dann auf einmal erschien ihr Mann. Aber noch bevor Phillip Bowen ihn sehen konnte, noch bevor er rief oder sich sonst irgendwie bemerkbar machte, schien Evelin bereits seine Nähe zu spüren. Bowen sagt, sie habe Angst gehabt. Eine Angst, die er habe riechen können. Sie habe etwas von einem Tier gehabt, das seinen schlimmsten Feind wittert. Und die Art, wie er gleich darauf nach ihr gerufen habe, sei eindeutig gewesen - auch
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