Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
zumindest nicht zu dem Eindruck, den Jessica von ihm hatte.
Als ahnte er ihre Gedanken, sagte er: »Ich habe eine phantastische Haushälterin. Früher nannte man so etwas eine Perle . Sie kümmert sich um alles. Haus, Garten, Küche. Ich würde nicht so ein Brimborium veranstalten, aber … im Grunde ist es mir egal. Sie soll es machen, wie sie denkt.« Er ließ sich mit einem leisen Stöhnen in einen Sessel fallen. »Verdammtes Bein. Ein Jagdunfall. Vor fast dreißig Jahren. Kann einem das halbe Leben versauen, so etwas.« Er wies auf ein Sofa. »Setzen Sie sich. Und dann sagen Sie, weshalb Sie gekommen sind.«
Sie setzte sich. Sie mochte ihn nicht, und sie hatte nicht den Eindruck, daß sich daran etwas ändern würde. Er war verbittert, er lebte diese Verbitterung aus und scherte sich einen Dreck um andere Menschen. Vielleicht war es die Sache mit dem Bein, vielleicht etwas anderes. Er haderte mit dem Leben, fühlte sich als ein Opfer ungerechter Schicksalslaunen und sah nicht ein, daß es andere besser haben sollten. Er strahlte eine fast greifbare Kälte aus. Aber auch die Faszination einer völligen Unabhängigkeit. Er brauchte niemanden, und es war ihm absolut gleichgültig, was andere von ihm dachten.
»Ich war etwas über ein Jahr mit Alexander verheiratet«, sagte sie, »und ich kannte ihn nicht allzu lange Zeit davor. Er wurde … er ist gestorben, bevor ich ihn richtig kennenlernen konnte. Vieles an ihm und um ihn ist mir ein Rätsel. Deshalb dachte ich, Sie könnten mir helfen.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Sein Gesicht trug einen verächtlichen Ausdruck. »Wie ich es mir gedacht hatte. Aber wissen Sie, wann ich Alexander zuletzt gesehen habe? Das war am Tag seiner ersten Hochzeit. Vor … na ja, das müssen so siebzehn Jahre sein. Er war Anfang bis Mitte zwanzig, was weiß ich. Er heiratete diese unheimlich schöne Spanierin. Elena. Ich wollte zu der Hochzeit nicht kommen, aber Elena kreuzte hier bei mir auf und bequatschte mich, es doch zu tun. War ein Fehler, habe mich nachher nur geärgert. Aber sie hatte mich komplett eingewickelt. Hätte nie gedacht, daß das einer Frau gelingen könnte. Aber sie war … mein Gott, war sie schön! Und klug. Ich dachte, wenn es Alexander gelungen ist, eine solche Frau an Land zu ziehen, dann hat er sich vielleicht geändert. Ist nicht mehr der jämmerliche Waschlappen, als den ich ihn kannte. Also hab ich mich in meinen besten Anzug geworfen und bin am Standesamt erschienen. Elena trug ein weißes Kostüm, sehr kurz, sehr eng, sehr sexy. Der Standesbeamte geriet ins Stottern bei ihrem Anblick. Aber wissen Sie, was ich dachte?«
Er beugte sich vor, fixierte sie genau und mit einer gewissen Wollust, und noch bevor er weitersprach, wußte sie, daß er ihr weh tun würde und daß er es genoß.
»Ich dachte, daß er immer noch der Schlappschwanz ist, der er immer war. Nur eben ein Schlappschwanz mit einer tollen Frau. Er hat sie angebetet. Er konnte es wohl selbst nicht fassen, weshalb sie sich mit ihm eingelassen hatte.«
Seine Worte waren wie Giftpfeile. Sie schmerzten, weil es schrecklich war, einen Vater zu erleben, der in dieser Art über seinen toten Sohn sprach. Aber das wirklich Schlimme war, daß Jessica wußte, was er meinte. Gerade in der letzten Zeit vor Alexanders
Tod hatte sie selbst so gedacht wie dieser alte Mann vor ihr. Nicht in seinen gehässigen Ausdrücken, nicht in seinen brutalen, verächtlichen Formulierungen. Aber sie hatte Alexander als schwach empfunden, als einen Menschen, der sich von anderen dirigieren und bestimmen ließ. Dessen Schwäche ihren Höhepunkt an jenem Abend erreicht hatte, als er es nicht fertigbrachte, sich vor sein Kind zu stellen. Als er verzweifelt und hilflos zugesehen hatte, wie Ricarda erniedrigt wurde. Als er ein einziges Bild der Rückgratlosigkeit abgegeben hatte.
»Ihr Sohn lebt nicht mehr«, sagte sie.
»Na und? Ändert das etwas an objektiven Wahrheiten? Sie sind seine Witwe, und Sie meinen, pietätvoll mit seinem Andenken umgehen zu müssen. Aber soll ich Ihnen etwas sagen? In ein paar Jahren hätten Sie ihn genauso verlassen, wie Elena es getan hat. Sie scheinen mir eine Frau zu sein, die mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Sie haben um Klassen mehr Willensstärke und Kraft als Alexander. Irgendwann wäre es Ihnen zu bunt geworden, mit einem Weichei durchs Leben zu gehen. Sie hätten sich auf und davon gemacht, und er hätte sich in panischer Hast nach der nächsten Frau umgesehen,
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