Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
war verletzt.
Diane und Sophie hatten verweinte Augen und mochten nichts essen. Vermutlich hatten sie gar nicht herunterkommen wollen, aber natürlich hatte Patricia darauf bestanden. Jessica fragte sich, was vorgefallen sein mochte. Vielleicht würde sie es herausfinden, vielleicht auch nicht. Vieles blieb hier im verborgenen.
Am Ende sollte es mich auch gar nicht interessieren, dachte sie.
Leon war in sich gekehrt, entschuldigte sich gleich nach dem Essen und verschwand auf sein Zimmer.
Patricia verkündete, mit den Kindern nach Haworth fahren und zu der Ruine von Wuthering Heights wandern zu wollen.
»Geht ihr nicht reiten?« fragte Jessica erstaunt.
»Wir waren heute früh«, erklärte Patricia kurz.
Diane brach in Tränen aus, was ihre Mutter geflissentlich ignorierte.
»Kommst du mit?« wandte sie sich an Evelin.
Evelin erklärte, wegen ihrer Zerrung am Fuß immer noch kaum laufen zu können. Patricia hielt ihr einen Vortrag über das
langsame Herantasten an Sportarten, die ein Mensch nicht gewohnt war. Als sie endlich mit ihren Töchtern losfuhr, war es, als löse sich bei allen ein Stück Beklemmung.
Tim überredete Alexander zu einem Spaziergang.
Vermutlich wird er ihm psychologische Tips für den Umgang mit seiner widerspenstigen Tochter geben, dachte Jessica und wunderte sich selbst, weshalb dieser Gedanke so starke Aggressionen in ihr auslöste.
Sie trank am späten Nachmittag mit Evelin Kaffee vor dem Kamin. Draußen schien die Sonne, aber es war kühl und windig, und man konnte nicht auf der Terrasse sitzen. Von den anderen war noch keiner zurück, und Leon rührte sich nicht aus seinem Zimmer. Evelin wirkte entspannter als sonst. Nach dem Kaffee trank sie mehrere Schnäpse und berichtete Jessica von Leons finanziellen Problemen und den Schulden, die er bei Tim hatte.
»Deshalb sind die Reitstunden für Diane und Sophie gestrichen«, berichtete sie, »und wahrscheinlich müssen Patricia und Leon ihr Münchner Haus verkaufen.«
»Aber warum spricht niemand darüber?« fragte Jessica. »Warum tut Patricia ständig so, als sei alles in Ordnung? Ihr seid doch langjährige Freunde!«
Evelin zuckte mit den Schultern. »Sie will sich keine Blöße geben. Ich glaube, sie könnte im Sterben liegen, und sie würde noch immer jedem erzählen, daß es ihr glänzend geht!«
Zum Abendessen trafen sie alle wieder zusammen, aber es wurde wenig gesprochen.
Ricarda hatte sich nicht blicken lassen.
Leon aß kaum etwas und schrak zusammen, wenn er angesprochen wurde.
Patricia hatte auf der Wanderung viel Farbe bekommen. Mit ihrer gebräunten Haut, den hellblonden Haaren und dem leuchtend roten Baumwollpullover bekleidet, sah sie wieder einmal wie ein Fotomodell aus. Sie wirkte auf eine eigenartige Weise angriffslustig. Wie ein Mensch, der beschlossen hatte, einen Kampf
aufzunehmen. Ganz anders jedenfalls als ihr Mann, der offensichtlich in Depressionen versank und zunehmend gelähmt schien.
Alexander sagte fast gar nichts.
Um elf Uhr war Ricarda immer noch nicht zurück.
Der trübe Tag ging so traurig zu Ende, wie er begonnen hatte.
16
Ricardas Tagebuch
23. April . Ich bin so aufgeregt, ich habe weiche Knie, und mein Herz rast. Meine Hände zittern ein bißchen beim Schreiben. Es ist fast halb drei Uhr nachts. Ich bin eben zurückgekommen. Als ich die Treppe hinaufschlich, ging die Tür zum Schlafzimmer von Papa und J. auf, und Papa fragte, ob ich es bin. Ich sagte »ja« und dachte, jetzt kommt eine lange Predigt, aber er sagte nur: »Wir sprechen uns morgen.«
Und machte die Tür wieder zu.
Aber es wäre mir auch egal gewesen, wenn er jetzt gleich mit mir hätte reden wollen. Ich hätte gar nicht richtig hingehört, glaube ich.
Ich habe es getan. Keith und ich haben es getan. Wir haben miteinander geschlafen. Und es war das Schönste, was ich je erlebt habe.
Wir waren den ganzen Tag zusammen. Morgens hatte Papa auf mich eingeredet und gesagt, ich darf Keith nicht mehr sehen, aber ich wußte sofort, daß ich mir das nicht verbieten lassen würde. Denn dann hätte ich auch gleich sterben können. Übrigens glaube ich, daß J. in dieser Sache zu mir hält. Vielleicht will sie sich anbiedern. Egal. Ich kann sie trotzdem nicht leiden.
Ich bin zur Scheune gelaufen; ich hab’s mir gar nicht erst angetan, mit diesen Blödmännern zu frühstücken. Die kotzen mich an, die kotzen mich alle so maßlos an … Wenn ich Keith nicht hätte, ich würde das keinen Tag länger aushalten.
Er war schon in der
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