Am Ende des Tages
Frage der Zeit war, bis man ihn verhaftete. Und man musste ihm einreden, dass Lindenfeld ihn belasten würde, um seinen eigenen Hals zu retten.
Das Gasventil schloss sich, das Wasser wurde kalt. Kajetan fluchte, stieg aus dem Duschbecken, trocknete sich ab und ging in sein Zimmer zurück, um sich anzuziehen.
Eine halbe Stunde später sprang er am Wiener Platz vom Trittbrett der Tram und marschierte zum Johannisplatz.
Die alte Hausbedienstete, die er auf dem Flur der Pension Prokosch antraf, war schlecht gelaunt.
»Der Herr ist schon fort«, sagte sie kurz angebunden.
»Wissen Sie zufällig …?«
»Sollt ich mich jetzt auch noch drum kümmern, wo einer hingeht?«
»Entschuldigens, ich kann mich jetzt grad nicht dran erinnern, dass ich nicht höflich gefragt hätt.«
Die Alte lenkte mürrisch ein. »Sinds mir nicht bös, Herr. Aber ich bin heut allein und hab einen Haufen Arbeit. Ich weiß nicht, wo der Herr hin ist oder wann er wieder da ist. Heimkommen tut er auch immer, wenn anständige Leut schon lang im Bett liegen. Ich weiß bloß, dass ihn zwei Herrschaften am Vormittag abgeholt haben.« Sie verstummte und sah über seine Schulter zur Eingangstür. Ein junger Polizist war eingetreten. Er tippte grüßend an seinen Pickelhelm und wandte sich an die Alte.
»Sprech ich mit der Inhaberin?«
Sie wandte sich um und rief in den Hintergrund. »Frau Prokosch! Polizei!«
Eine Tür klapperte. Die Pensionsbesitzerin rauschte heran.
»Die Polizei schon wieder? Unerhört! Wir sind ein anständiges Haus, bitte ja?«
»Bleibens ganz ruhig, Frau«, sagte der Gendarm. »Ich wär bloß wegen einer Identitätsermittlung da.«
»Wegen was?!«
»Bloß um eine Identität täts gehen«, wiederholte der Polizist sachlich. »Ist bei Ihnen eine Person abgängig, weiblich, Alter ungefähr Mitte zwanzig, eventuell jünger, ein bisserl korpulent, zirka eins fünfundsechzig groß, dunkelbraunes Haar?« Er fügte erklärend hinzu: »Sie hat einen Zettel dabeigehabt, wo Ihre Adresse drauf zu lesen gewesen ist.«
»Das Moidl …«, hauchte die Alte.
Die Pensionsbesitzerin warf ihr einen unwilligen Blick zu. »Du bist nicht gefragt, Erna. In die Küche, ja?« Sie wandte sich wieder dem Beamten zu. »Und ob! Das feine Fräulein darf sich als entlassen betrachten. Diese lose Person kommt mir nicht mehr über die Schwelle. Sie ist heute früh nicht zum Dienst erschienen!«
Die alte Köchin hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Wankend trat sie vor den Polizisten und sah zu ihm hinauf. Tränen schossen ihr in die Augen.
Der Wachtmeister nickte ernst.
»Gestern Nacht, ja«, sagte er. »In den Stauden von der kleinen Isar, beim Museum unten. Aber zum Glück ist grad einer vom Schwanenwirt rausgekommen und hats gehört. Sie liegt im Schwabinger Krankenhaus draußen. Reden kann man noch nicht mit ihr, und die Doktoren wissen auch noch nicht, ob sie durchkommt.«
48.
Binnen einer einzigen Generation hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt München mehr als verdreifacht. Aus der biederen Residenzstadt war die drittgrößte Stadt des Deutschen Reiches geworden. Zwischen Reichsgründung und Weltkrieg erlebte die Bauwirtschaft einen rauschhaften Aufstieg. Ob monumentale Regierungsgebäude im Zentrum, prachtvolle Villen oder Mietskasernen in den Vorstädten – die Ziegel für Mauerwerk und Dächer wurden aus dem Lehm der Föhringer Flur im Nordosten der Stadt gefertigt. Die einheimischen Unternehmer lockten für das Schlagen und Brennen der Ziegel friaulische Saisonarbeiter nach München. Aus der unscheinbaren Landschaft um die Föhringer Dörfer, die über Jahrhunderte nur aus einigen Dutzend bäuerlicher Anwesen mit ein paar Hundert Einwohnern bestanden, waren begehrte Gewerbestandorte geworden, um die sich die Spekulanten rissen. Nach Krieg und Inflation kam das Gewerbe bald wieder auf Touren. Die stagionali aber, die man in den Zeiten nationaler Besoffenheit als unerwünschte Ausländer schmählich ausgeschafft hatte, kehrten nie mehr wieder.
Kull ließ sich am Ortsende von Oberföhring absetzen. Nachdem er sich versichert hatte, dass ihm niemand gefolgt war, marschierte er nach Norden. Der Himmel hatte aufgeklart, ein kalter Wind trieb abgestorbenes Laub und Staub vor sich her.
Schon ragten hinter den Alleebäumen der Münchner Straße die ersten Schlote der Brennöfen auf. Die über eine weite, metertief abgetäufte Senke verteilten Ziegeleien erstreckten sich bis zum Horizont.
Am Bahndamm blieb Kull stehen. Die Lindenfeldsche
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