Am Ende des Tages
Fabrik war einer der letzten Betriebe, die sich an die Straße nach Freising reihten. Kull schlug den Kragen hoch, bog von der Landstraße ab und betrat einen Schotterdamm.
Sein Plan stand. Die Zeit für Umwege und Tricks war vorbei. Gaunern wie Lindenfeld war nur beizukommen, indem man sie dazu brachte, sich selbst ein Bein zu stellen. Zwar war der Major kein Dummkopf, wie er mit seinem gewieften Vorgehen schließlich gezeigt hatte. Doch seine Schwachstelle war seine Gier.
Würde er alle Anschuldigungen noch als unbewiesene Spekulation parieren – aufhorchen würde er, wenn sich sein Gegenüber als nicht minder korrupt und rücksichtslos zu erkennen gäbe.
Kull würde ihm auf den Kopf zusagen, hinter der ganzen Schweinerei zu stecken. Und ihm ein Geschäft vorschlagen: Ein Anteil an der Beute dafür, dass weder das Ministerium, noch sein Kamerad Bischoff und die Nazis von seinen Machenschaften erfuhren.
Wäre der Major unschuldig, würde er ihn ohne Umschweife vor die Tür setzen. Wenn nicht, würde er unruhig werden, sofort die Konsequenzen abwägen. Und zuletzt reagieren, wie auch immer.
Danach würde es für Kull nur noch darum gehen, eine Weile auf der Hut zu sein. So lange, bis Lindenfeld in die Falle tappte.
Staub wirbelte auf. Zwei Lastwägen mit leerer Ladefläche rumpelten auf eine der Ziegeleien zu; in den meisten der Betrieben wurde noch gearbeitet. Die Piste teilte sich. Ein staubig verschliertes Schild wies den Weg zur Fabrik Lindenfelds. Nach einer Reihe schier endlos langer Trockenstadel erreichte Kull wieder freies Gelände. Die Schotterstraße führte in einer leichten Kehre auf eine Ansammlung von Gebäuden zu, die vom villenartigen Hauptgebäude und der massigen Anlage des Ringofens überragt und gegen Osten von einer mit Stauden bewachsenen Böschung begrenzt wurden. Dahinter weitete sich Ackerland. Kull schlenderte über die zur Ziegelei führende Abzweigung hinaus. An der Stelle, wo der Wirtschaftsweg die Staudenlinie durchbrach, schlug er sich zur Seite und schlich im Schutz des Gebüschs an die Ziegelei heran. Bald hatte er einen Platz erreicht, von dem aus er auf den Innenhof sehen konnte.
Kull runzelte die Stirn. Der Platz vor dem Verwalterhaus und dem Brennofen lag wie ausgestorben vor ihm. Vor dem Portal des Hauptgebäudes parkte eine dunkle Adler-Limousine. Sein Blick schwenkte nach oben. Aus dem Schornstein stieg feiner Rauch. Die Ziegelei war also in Betrieb. Wo aber waren die Arbeiter?
Gebückt arbeitete sich Kull vorwärts.
Dann sah er, halb verdeckt in einer verschatteten Lücke zwischen Presshaus und Ofen, den dunklen Simson-Supra.
Du hast gepennt, Kull, dachte er. Die Kerle sind dir zuvorgekommen. Sie haben Fürst hierher gebracht, haben ihn und Lindenfeld wahrscheinlich längst in der Zange. Und wenn sie ihr Geschäft verstanden, hatten sie irgendwo auf dem Gelände eine Wache postiert, um vor Überraschungen geschützt zu sein.
Kull fluchte leise und duckte sich tiefer. Die kleine Beretta drückte gegen seine Brust. Das Tageslicht hatte abgenommen. Von den Äckern im Osten säuselte dünner Wind heran. Als er sich für einen Moment abschwächte, horchte Kull auf.
Aus dem Verwalterhaus drang ein dumpfes, unregelmäßiges Hämmern.
Hört sich nicht gut an, dachte Kull. Gar nicht gut.
49.
Kajetan überlegte. Bis er Fürsts Spur wieder aufnehmen konnte, würde zu viel Zeit vergehen. Er würde Rosenauers Rat befolgen. Major von Lindenfeld musste dazu gebracht werden, seine frühere Aussage zurückzuziehen. Das Gericht käme nicht mehr umhin anzuerkennen, dass es noch andere Tatverdächtige gab. Es wäre verpflichtet, dieser Möglichkeit nachzugehen. Und damit konnte auch das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr abgelehnt werden.
Er sah auf die Kirchturmuhr. Halb vier. Wenn er sich beeilte, könnte er Major von Lindenfeld noch in seinem Firmenbüro antreffen. Er fuhr mit der Tram zum Ostbahnhof. Er hatte Glück. Der »Krautexpress« nach Ismaning stand zur Abfahrt bereit. In Unterföhring verließ er den Lokalbahnhof und machte sich nach Süden auf.
Im Westen näherte sich ein schmales Wolkenband der untergehenden Sonne. Über dem Horizont glühte der Himmel in zerfließenden Farben. Die Schatten wurden weich. Die Dämmerung brach an.
Dann sah er die ersten Schlote. Dünne Rauchsäulen stiegen in den dunkelblauen Himmel.
Noi siamo fornaciai … summte es in seinem Kopf. Ein wehmütiges Gefühl überfiel ihn. Bis zum Tod seines Vaters war hier seine Heimat gewesen.
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