Am Ende des Tages
umarmen suchte, drehte sie sich mit einem energischen Ruck zur Seite, hakte nach seinem Fuß und versetzte ihm einen Stoß. Er stürzte kopfüber in die Tiefe, auf das darunterliegende Steinpflaster. Wenige Stunden später starb er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Keiner hatte den Vorfall mitbekommen. Niemand verdächtigte sie. Aufopfernd bemühte sie sich in den folgenden Wochen um die trauernde Familie. Sie betete noch häufiger als zuvor. In der Beichte, die sie regelmäßig ablegte, erwähnte sie nichts von ihrer Tat. Wie der leidige Traum einer Nachtwandlerin nach dem Aufwachen in Vergessenheit sinkt, war in ihr ausgelöscht, was sie getan hatte.
Doch auch der teigige Hagestolz, in dessen Stockdorfer Villa sie einige Monate später einstand, hatte mehr mit ihr im Sinn gehabt, als er es sie vor Dienstantritt hatte wissen lassen. Bald war sie seine lauernden Blicke und unbeholfenen Komplimente leid. Ihre Distanz machte dem Privatier mehr und mehr zu schaffen. Er flehte, drängte. Seine Devotheit, seine täppische Anmache, seine erpresserische Güte stießen sie nur umso mehr ab.
Eines Abends war er betrunken von einem Tarock-Abend nach Hause chauffiert worden. Sie hatte seinen schweren Körper ins Bett gehievt, ihn ausgezogen und voller Abscheu betrachtete. Der Geruch von Urin stieg ihr in die Nase, als er sich plötzlich wie ein verlorenes Kind an sie klammerte und ihr einen Heiratsantrag machte. Sie überlegte. Sie liebte ihn nicht und würde es nie tun. Aber immerhin – er war nicht bösartig. Eher einfältig und gutmütig. Und sie würde für immer versorgt sein. Sie ließ schließlich erkennen, nicht abgeneigt zu sein. Er war glücklich.
Das aber rief umgehend seinen in München lebenden Sohn, einen herrisch auftretenden, verknöcherten Assessor, auf den Plan. Durch die Kaminklappe im darüberliegenden Zimmer konnte Ludmilla den Streit verfolgen.
Der Junior hatte getobt. Wie könne sein Vater sich nur dazu herablassen, einer niederklassigen Bediensteten einen Antrag zu machen? Seines Standes unwürdig und lächerlich sei das, noch dazu in seinem Alter. Ob er sich nicht schäme? Sei ihm nicht klar, dass es seine Anwartschaft auf eine Beamtenstelle beschädige, wenn dies ruchbar würde? Wie könne er ihm das nur antun? Nicht nur ihm, sondern der gesamten Familie? Wenn ihn sein erbärmlicher Johannistrieb so arg plage, würde niemand etwas einwenden, wenn er sein Verhältnis fortführe. Aber, bitte, mit Rücksicht auf seine Familie doch in angemessener Diskretion, ja?!
Der Alte knickte ein. Sich vor schlechtem Gewissen windend, stotterte er von einem kleinen Aufschub, für den er sie um Verständnis bat. Sie würde es doch einsehen, nicht wahr?
Wieder hatte sie zugehört. Schweigend, mechanisch nickend.
Er war erleichtert. Es sei schön, dass sie ihn verstehe. Und so vernünftig sei.
Vernünftig, hallte es in ihr nach.
Etwas platzte in ihr. Sie löste sich vom Treppengeländer. Ihr Puls stampfte jetzt, sie rannte ins Freie, gegen das blendende Licht, packte die unterste Sprosse der Leiter und riss sie um. Kummerer gab einen verblüfften Laut von sich, dann stürzte er in die Tiefe. Ludmilla ging auf den Liegenden zu, griff unter seinen Nacken und betrachtete das Gesicht des Sterbenden. Aus den aufgerissenen Augen Kummerers sprach Fassungslosigkeit. Seine Lippen bewegten sich zuckend, als wollten sie Worte formen. Statt ihrer quoll ein blutiges Rinnsal hervor. Sein Blick brach. Sie streichelte über seine Stirn.
Geh, dachte sie. Geht alle. Wieder empfand sie das Gefühl tiefen Friedens.
Ein gellender Schrei ertönte. Ludmilla erwachte aus ihrer Betäubung und zwinkerte gegen die sengenden Strahlen der Nachtmittagssonne.
Am Gartentor stand ein kleines Mädchen mit Zöpfen und Hahnenkammfrisur, in der Hand noch den Herbstblumenstrauß, den sie der verehrten Nachbarin gepflückt hatte. Ludmilla ließ Kummerers Kopf zurückfallen und schoss empor. Das Gesicht zur Grimasse entstellt, duckte sie den Kopf zwischen die Schultern wie ein von einer Hundemeute gestelltes Wild.
»Ich habs gesehen!«, kreischte das Mädchen und rannte davon.
Wenige Stunden später wurde Ludmilla Köller in der Nähe des Würmufers festgenommen. Sie wehrte sich wie eine Tobsüchtige. Erst die Ohrfeigen des Polizisten brachen ihren Widerstand.
Der diensthabende Kriminalinspektor in der Münchner Polizeidirektion brach das Verhör bald ab. Er besprach sich mit seinen Kollegen und dem Leiter der Kriminalabteilung.
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