Am Ende des Winters
verstört zu sein. Aber als die Opferpriesterin hatte sie ja schon mit Hresh getvinnert; sie hatte das mit allen im Stamm getan; für sie war es nicht weiter schwierig. Also nahm sie ihn mit in ihr Tvinnr-Gemach, und wieder betteten sie sich zueinander und umarmten sich, und ihre Sensororgane verflochten sich, und sie wurden eins in ihren Seelen. An jenem seinem Erst-Tvinnr-Tag hatte Torlyri in Hresh eine große Fremdheit und Seltsamkeit wahrgenommen und die Kompliziertheit seines Denkens gespürt, und eine Einsamkeit in ihm, die er vermutlich sich selbst nicht eingestand; und nun spürte sie all dies erneut, aber viel intensiver, so als leide er Schmerzen. Sie vergaß ihr Verlangen und wollte Hresh in Liebe und Wärme einhüllen und seinen Kummer lindern, doch war dies etwas, das er nicht zu erlauben beabsichtigte. Sie hatten an diesem Tag andere Aufgaben zu erfüllen. Und so wuchtete er hastig eine Barriere nieder, um seine persönlichen Gefühle abzuschirmen – Torlyri hatte nicht gewußt, daß es möglich sei, dies zu tun, sich dermaßen vollständig vom Tvinnr-Partner abzuschotten; doch natürlich war Hresh ja nicht wie andere Leute – und dann, verborgen hinter dieser undurchdringlichen Wand, griff er zu ihr herüber, benutzte die Tvinnr-Vereinigung als Brücke und begann sie ganz nüchtern und sachlich in der Sprache der Beng zu unterrichten.
Als später der Bann gebrochen und ihre Seelen wieder getrennt waren, redete er zu ihr in der Bengsprache, und sie verstand ihn und antwortete ihm in eben dieser Sprache.
»So, das war’s«, sagte er. »Nun kannst du also die Sprache ebenfalls.«
Dieser schlaue Hresh! Natürlich beherrschte er die Zunge der Beng schon eine ganze Weile vollkommen. Das war ihr auf einmal klar. Koshmar hatte recht gehabt: Hresh hatte sie alle nur hingehalten, hatte nur vorgegeben, daß er weiteres Studium benötige, damit er der einzige bleibe, der im Besitz des Geheimnisses war. Torlyri hatte schon früher festgestellt, daß er sich gern an solche kleine Geheimnisse klammerte. Aber vielleicht lag es im Wesen der Chronisten, aus ihrem Wissen Rätsel und Geheimnisse zu machen? Damit der Stamm um so stärker von ihnen und ihrem Spezialwissen abhängig ist, dachte sie.
Aber andererseits hatte er sich ja nicht geweigert, sie zu unterrichten. Und jetzt hatte sie erreicht, wozu sie zu ihm gekommen war. Nun hatte sie sich das Rüstzeug verschafft und konnte das tun, wovor sie sich scheußlich fürchtete: Sie konnte zu dem Beng mit der vernarbten Schulter gehen und ihm erklären, wie sehr es sie nach ihm verlangte und – war dies Wirklichkeit? Konnte es sein? – daß sie ihn liebte.
Als die Sache mit Torlyri erledigt war, kehrte Hresh in sein Privatgemach zurück. Dort saß er still eine Weile, fast ohne zu denken, da und gewährte seinem Geist Erholung nach dem Energieabfluß, den er ihm zugemutet hatte. Dann stand er auf und trat ins Freie. Der Tempelplatz war leer. Die spätnachmittägliche Sonne stand an diesem Sommertag noch hoch im Westen, aber sie sah verquollen und kraftlos aus, während sie dem Meer entgegensank.
Ziellos begann er rasch von der Siedlung aus nordwärts zu wandern.
Die Tage waren lang dahin, in denen er sich die Mühe machte, Koshmar noch um ihre Erlaubnis zu bitten, ehe er sich auf Forschungsarbeit in Vengiboneeza begab, oder gar einen Krieger als Schutzbegleitung anforderte. Inzwischen ging er, wann immer es ihm beliebte, wohin immer es ihm beliebte. Ungewöhnlich allerdings war, daß er die Siedlung zu so fortgeschrittener Tagesstunde verließ. Seit geraumer Zeit schon hatte er keine Nacht mehr außerhalb verbracht. Während er jedoch heute immer weiter dahinwanderte und während die Schatten immer länger wuchsen, wurde ihm allmählich bewußt, daß es ja Nacht wurde und daß er dennoch immer noch weiter fortstrebte. Aber dies schien weiter nicht wichtig zu sein. Und er wanderte weiter.
Auch nach all den Jahren, die Hresh inmitten der Ruinen zugebracht hatte, war es klar, daß er kaum das ganze Vengiboneeza erforscht haben konnte. Der Bezirk, in den er jetzt vorstieß (seiner Vermutung nach: Friit Praheurt – oder vielleicht Friit Thaggoran), war ihm fast vollkommen unbekannt. Die Gebäude waren in schlechtem Erhaltungszustand, erdbebengeschädigt, verschoben, eingestürzte Fassaden zuhauf, hochgekantete Fundamente, und er mußte sich vorsichtig einen Weg über Gipsberge, verwuchtete Platten und nicht mehr identifizierbare Bildwerkhaufen suchen. Ab und zu
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