Am Ende eines Sommers - Roman
sie und wischt eine entlaufene Träne weg. Ich küsse sie auf die Wange, nehme ihre Hand und will sie nicht mehr loslassen.
»Wo ist er denn?«, fragt sie und zerrt mich zu Matthews Kinderwagen. Vorsichtig beugt sie sich darüber und legt die Hand auf den Mund. »Oh! Oh, Mary. Er ist göttlich!«
Matthew schläft noch. Seine weichen blonden Locken ringeln sich um seine vollkommenen Ohren.
»Er ist wie Billy«, sage ich. »Billy war blond. Als Kind.«
Einen Moment lang stehen wir stumm da und betrachten das schlafende Baby.
»So«, sagt Rachel und klatscht in die Handschuh-Hände, »wo kann ich dir hier eine heiße Schokolade spendieren?«
Ednas Café ist an der Hafenpromenade, und Billy sagt immer, es ist das beste Café in Southsea. Rachel bestellt zweimal heiße Schokolade und zwei Rosinenschnecken.
»Heiße Schokolade trinke ich nur mit dir«, sage ich und atme den süß duftenden Dampf ein.
Rachel beißt ein großes Stück von ihrer Schnecke ab. »Mmmm. Ich bin halb verhungert.«
Ich wickle meine Schnecke auseinander, schiebe Stück für Stück in den Mund und arbeite mich langsam auf die teigige Mitte zu.
Rachel lacht. »Mein Gott, du hast sie schon immer so gegessen! Kein Wunder, dass du länger gebraucht hast als ich. Ich alter Vielfraß.« Sie klopft sich auf den Bauch, löffelt noch mehr Zucker in den Becher und verstreut die Körnchen auf dem Tisch.
Sie ist immer noch dünn wie eine Bohnenstange. Mit vollen Backen lächelt sie mich an.
»Wie geht’s Robert?«, frage ich. Vor ihm würde sie nie so essen.
»Gut. Aber jetzt will ich was über Billys Familie hören. Wie ist es so, bei ihnen zu wohnen? Ich wette, sie sind verliebt in dich! Und in dieses hinreißende Baby.«
Ich hebe meine Tasse zum Mund und schaue sie über den Rand hinweg an.
»O Gott! Sind sie grässlich? Wie ist seine Mutter?« Sie starrt mich erwartungsvoll an.
»Sie ist in Ordnung.« Ich zucke die Achseln. »Sie sind nicht wie unsere Familie, aber schlecht ist es nicht. Es muss schwer sein, damit zurechtzukommen, dass eine Fremde mit einem Baby einzieht. Die Mutter ist okay.« Ich drehe meinen Trauring am Finger und sehe zu, wie das Licht an den Rändern funkelt.
»Ich wünschte, du hättest mich gefragt«, sagt Rachel leise. »Ich hätte deine Brautjungfer sein können. War es nicht einsam? Nur ihr beide?«
Ich schiebe den verstreuten Zucker säuberlich zu einem Häufchen neben meinem Teller zusammen. »Es war okay. Sogar nett. Kein Aufwand. Keine Gäste, um die man sich kümmern musste. Keine Reden. Nach der Trauung haben wir auf einem Bötchen auf der Themse ein Picknick gemacht. Das war romantisch.«
Rachel fährt mit dem Finger durch mein Zuckerhäufchen und grinst frech.
»Ich habe Daddy ein paar Mal geschrieben«, sage ich. »Aber er hat nie geantwortet.«
Rachel starrt in ihre Schokoladentasse.
»Ich liebe Billy so sehr, Rach. Wenn Mummy das nur begreifen könnte – vielleicht würde sie es sich dann überlegen?«
Rachel schaut aus dem Fenster und malt mit der Fingerspitze Muster auf die beschlagene Scheibe. »Sie will nicht mal über dich sprechen, Mary. Wahrscheinlich liegt’s an ihrer alten Klosterschule. Und Billy ist ein wunderbarer Mann. Du hast Glück, dass du ihn gefunden hast, Mary. Vergiss Mum für eine Weile. Sie wird schon zu sich kommen, und dann tut es ihr leid. Also. Wann zieht ihr in euer eigenes Haus? Ich kann dich dann jeden Monat besuchen. Ich könnte sogar babysitten. Billy hätte doch nichts dagegen, oder?«
»Nein, er hat dich gern. Wir würden uns beide freuen.«
Matthew bewegt sich unter seiner Decke.
»Er ist jetzt drei Monate alt«, sage ich. »Möchtest du ihn auf den Arm nehmen?«
Rachel nimmt ihn mir ab und hält ihn zärtlich im Arm. Er schaut zu ihr auf, und seine braunen Augen suchen ihre. Er lächelt und gurgelt und reckt entzückt die pummeligen Beine und Fäuste.
»Oh, Mary«, sagt Rachel.
Als Rachel gegangen ist, spaziere ich durch die Stadt und genieße die Sonne auf meiner Haut. Die Möwen sind heute unruhig; sie kreischen und krächzen über mir. Matthew lächelt mich ab und zu an und schläft dann wieder. Die frische Luft tut ihm gut. Als ich zu Hause ankomme und den Schlüssel im Schloss drehe, bewegt sich die Gardine.
Jean ist eisig. »Ich nehme an, du hast auswärts gegessen?«, fragt sie und verschwindet geschäftig nach hinten in die Küche, wo ihr Teller vom Mittagessen neben der Spüle steht.
»Oh, ich hoffe, du hast nichts für mich gekocht, Mum«,
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