Am Ende eines Sommers - Roman
Gesicht.
»’s du das, Jakey?«, fragt Mum schlaftrunken.
Ich wende mich vom Fenster ab. Sie bewegt sich unter der Decke und reibt sich mit den Handballen die geschwollenen Augen. Als ich ihr das Glas Wasser reichen will, stoße ich mit dem Fuß gegen eine leere Flasche, und sie kollert kreiselnd in die Ecke. Mum nimmt ein kraftloses Schlückchen und stellt das Glas zur Seite.
»K’mm her, Schatz.« Sie winkt und klopft neben sich auf das Bett. Jetzt, da sie sich bewegt, stinkt sie nach altem Gin.
Ich bleibe stehen. »Ich muss Andy suchen, Mum. Ich glaube, er ist bei Ronny. Möchtest du etwas?«
»Jakey, komm schon, mein Süßer. Ich möchte, dass du herkommst und dich zu mir setzt. Bitte? Mein Junge?« Ihr Gesicht ist aufgedunsen. Sie hat Tränen in den Augen und einen verwöhnten Schmollmund mit hängenden Mundwinkeln. Ich glaube, ich hasse sie. Ich bin nicht sicher.
»Wie wär’s mit einem gekochten Ei? Du magst doch immer gern ein Ei, wenn es dir nicht gut gegangen ist, oder?«
Mum lässt sich wieder in die Kissen fallen und dreht das Gesicht weg. Ich gehe hin und setze mich auf die Bettkante, wie sie es will. Ich kann es kaum ertragen, die Laken zu berühren, in denen sie geschlafen hat. Alles fühlt sich schmutzig und klamm an. Sie dreht sich wieder zu mir um und nimmt meine Hand.
»Guter Junge, Jakey. Ich liebe dich, weißt du? Hast du eine Ahnung, wo meine Handtasche ist?«
Ich bin so müde. Ich kann ihre Worte kaum hören, aber ich weiß, was sie sagt. Sie hatte diese Bett-Episoden schon öfter, aber diese dauert schon ewig und will gar nicht mehr aufhören. Ich lasse ihre Hand los, gehe zur Tür und drehe mich noch mal um. In die Bettdecke gewühlt, liegt sie da.
»Mum, es ist kein Geld mehr da, und ich kann dir nichts besorgen. Das Geld ist seit letzter Woche alle. Die ganze Woche hatten wir den Rest Frühstücksflocken zum Abendessen, und jetzt haben wir keine mehr. Bloß gut, dass wir diese beschissene Schulspeisung kriegen, sonst würden wir verhungern! Und du willst, dass ich losgehe und dir Gin hole?« Sie hat sich wieder weggedreht und wünscht sich, ich würde gehen.
»Mum! Du musst aufstehen! Du musst aufstehen!« Ich packe ihr schlaffes Handgelenk und zerre sie aus der verknäulten Miefkuhle namens Bett. »Mum! Das reicht jetzt! Steh auf!«
Ich reiße und ziehe an ihr, und sie murmelt: »Hau ab, Jakey, lass mich in Ruhe, ja?«
Blitzartig ist Sandy da. Sie zieht mich in den Flur und führt mich an der Hand die Treppe hinunter, und ich drehe mich immer wieder um und schaue zu Mum hinauf.
Sandy umarmt mich in der Küche, wiegt mich, armes Kind, armes Kind . Ihre Tränen fallen von meinen Haaren und rollen über mein Gesicht. Ich kann nicht sprechen, kann nicht weinen, drücke nur die Wange an die harte, funkelnde Brosche an ihrer Brust, die mit tausend orangegelben Diamanten besetzt ist. Der scharfe Schmerz fühlt sich gut an, hell, und die Lichtpunkte tanzen an meinem Augenwinkel.
Andys Schlüssel dreht sich im Türschloss. Dann ist er in der Küchentür, ich sehe ihn an, und Sandy steht da mit Tränen auf den Wangen. Sein angstvolles Gesicht sagt mir, dass er glaubt, es ist was mit Mum. Dass er wirklich das Schlimmste annimmt. Und zum ersten Mal sehe ich, dass er kein kleiner Junge ist. Ich sehe, dass er es auch mitkriegt.
»Sie schläft nur, Andy!« Mein schrilles Kreischen klingt überhaupt nicht nach mir, aber er bricht trotzdem in Tränen aus. Er steht da, blass und dünn und weinend und allein. Und Tante Sandy nimmt ihn in den Arm und weint so viele Tränen, dass sie meine ersetzen.
Ich lasse mich in den Sessel fallen und wünschte, ich könnte einfach einschlafen, wegdämmern in einen tiefen, tiefen Schlaf, und aufwachen, wenn alles vorbei, wenn alles wieder normal ist.
Mary,
August 1970
Als ich am Fährenanleger ankomme, sehe ich Gypsy am Fahrkartenschalter warten. Ein Rucksack aus Armeebeständen liegt neben ihren Füßen, die in Sandalen stecken, und in ihre Zöpfe sind bunte Bänder geflochten. Sie sieht aus wie eine kleine Sonnennymphe, und sie lächelt alle an, die auf dem Weg zum Schiff an ihr vorbeikommen. Die strahlende Sonne scheint auf ihre nackten Arme, die dünn und braun sind.
Sie sieht mich kommen und hüpft auf und ab und schwenkt die Arme über dem Kopf. »Mary! Du bist da!«
Wir fallen einander um den Hals, und Gypsy quietscht und tritt zurück, damit sie mich besser anschauen kann. Ihre Stirn legt sich in Falten. »Wo sind deine Sachen? Du
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