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Am Ende eines Sommers - Roman

Am Ende eines Sommers - Roman

Titel: Am Ende eines Sommers - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Ashdown
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misstrauischem Unbehagen ihre Plätze, während andere auf sein Erscheinen ganz gelassen reagieren. Als er meine Hand nimmt, sagt er: »Sei frei.« Er zupft eine daunenweiche weiße Feder aus seiner Boa und drückt sie mir in die Hand. Ein beschwingtes Kribbeln rieselt meine Wirbelsäule herunter. Der Mann geht weiter zum nächsten Passagier.
    »Er hält sich für Jesus«, flüstert Gypsy. »Er ist auf allen Festivals und segnet alles und jeden. Ich glaube, er hat gar keinen richtigen Namen. Nur Jesus.«
    »Nur Jesus«, wiederhole ich, und der Klang der Worte in meinem Mund gefällt mir.
    Gypsy schaut an der Reihe der Passagiere entlang zu dem Mann in dem langen Gewand hinüber. »Ja. Nur Jesus.«
    »Halleluja«, sage ich, und wir lachen wie zwei Schulmädchen.
    Wir entspannen uns an Deck; die Sonne versengt uns die Haut, und wir sind unter vielen fröhlichen Leuten in Sicherheit. Partystimmung breitet sich aus, als die Boote und Masten vor der Isle of Wight allmählich sichtbar werden und der Hafen von Portsmouth hinter uns verblasst.
    Es ist Samstagnacht, und wir tanzen Arm in Arm zur Musik der Doors. Weil die Elektrik Probleme macht, spielt die Band fast im Dunkeln, was die geisterhafte Qualität der Musik noch verstärkt. Seit unserer Ankunft am Mittag haben wir Cider getrunken, und meine Haut glüht von zu viel Sonne. Gypsy hat mir das Haar zu Braids geflochten, die von der Stirn bis in den Nacken reichen. Meine Haut fühlt sich wach und sinnlich an. Ich bin von Männern geküsst worden, von Wildfremden in Kaftans und Westen, und Gypsy hat gesagt, ich soll den Augenblick genießen und lässig sein. Heute Nachmittag, als wir dösend im Gras lagen, hat sie zu mir herübergelangt und mit spitzen Fingern nach der Schnur an meiner Bluse gegriffen, wie ein Schmetterling. Der Baumwollkrepp zwischen meinen Brüsten öffnete sich. Als ich die Bluse ungeschickt wieder zusammenraffen wollte, sagte sie: »Lass es so. Sieht gut aus, wenn es ein bisschen tiefer sitzt. Nicht so steif. Sehen kann man sowieso nichts. Ist nur ein bisschen verlockender, das ist alles.« Sie grinste und öffnete an ihrer eigenen Bluse noch einen Knopf. Ich lag auf dem Rücken und blinzelte in den zu hellen blauen Himmel, und hoch über uns flogen drei Schwäne vorbei. »Schwäne«, sagte ich, und Gypsy lachte nur.
    Jetzt schimmern Jim Morrisons Locken im Dunkeln auf der Bühne, und seine Stimme lässt meinen Brustkorb summen. Ich glaube, ich bin verliebt, und ich bin froh, dass meine Bluse offen ist.
    Ich fühle eine Hand auf meiner Schulter, und ein weißes Gesicht schiebt sich zwischen mich und Gypsy. »Babe, wer ist deine Freundin?« Der Akzent ist amerikanisch, näselnd.
    »Zigg! Du Genie! Wie hast du uns gefunden? Mary, das ist Zigg – von St. Martin’s. Genie!«
    Zigg steht da und hat die Hände auf den Hüften. Im nächtlichen Licht ist seine Haut durchscheinend blass, wie vom Mond beschienen. Sein Hals ist lang und elegant, und sein weißes Haar wächst von der hohen Stirn bis auf die Schultern. Er hat ein weißes Laken um die Schultern gelegt wie ein Cape.
    »Ihr beide seid unübersehbar, Gyp. Euch zu finden, war leicht, Babe.« Er küsst Gypsy, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, und lächelt wissend. »Und du bist also Mary?«
    »Ist es nicht ein bisschen dunkel für eine Sonnenbrille?«, frage ich, und es klingt steif. »Es ist fast Mitternacht.«
    Er befingert die kleinen runden Brillengläser. Sie sind tiefschwarz. »Ich bin Albino«, sagt er und reicht mir einen Joint.
    Ich nehme ein paar Züge und muss kichern, nicht wegen des Joints, sondern weil ich mit einem Albino auf einem Festival einen Joint rauche.
    »Sie ist cool«, sagt er zu Gypsy, und wir tanzen. Zigg wiegt sich zwischen uns hin und her wie ein Magier, hell und beunruhigend in der Dunkelheit. Ich sehe Nur Jesus, der durch die Menge wandert, Hände drückt und alle segnet. Mich hast du schon, denke ich und hoffe, er geht vorbei. Zigg schaut zu mir auf, und ich lache den Himmel an, den Kopf in den Nacken geworfen, aus voller Kehle, laut. When the music’s over, turn out the lights, turn out the lights, turn out the lights …
    Wir treiben in einem Meer guter Menschen, alle gut, alle gut. Als die Morgendämmerung herankriecht, nimmt Zigg uns beide an die Hand, und wir laufen durch das Gewühl hinaus in die Ebene oberhalb des Festivalgeländes. Die Taukälte dringt in meine Haut, und jedes kleine Härchen richtet sich auf. Die feuchte Brise legt sich auf mein

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