Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende eines Sommers - Roman

Am Ende eines Sommers - Roman

Titel: Am Ende eines Sommers - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Ashdown
Vom Netzwerk:
Stare fliegen auf mich zu wie ein Murmeln, wie geflüsterte Erinnerungen, die ich nicht richtig fassen kann. Ich stehe am Ende des Piers und finde sie beunruhigend, wie eine Mahnung an eine vergessene Angst, die unter der Haut sitzt und nie ganz sichtbar wird. Anfangs sind die Stare nur ein paar kleine rußschwarze Punkte, die in der stillen Luft hierhin und dahin schwirren. Sie stoßen steil auf mich herunter, bevor irgendein unsichtbarer Staubsauger sie wieder in die Höhe zieht. Auf der anderen Seite des Piers spuckt er sie aus, und sie verschwinden aus meinem Blickfeld. Die Kinder sind in der Nähe; sie sitzen immer noch auf der kleinen Holzbank vor dem Kiosk auf dem Pier von Brighton Rock, und ihre roten Gesichter schauen aus den Kapuzen ihrer wattierten grünen Anoraks. Erwartungsvoll sitzen sie da und hoffen, dass sie Zuckerwatte bekommen, wenn sie brav sind. Die Stare rauschen über sie hinweg, und die Wolke wird jetzt größer, schwillt zu einem Donnerhall von Gedanken und Flügelschlägen. Hinauf, hinüber, herab, steil. Die Novembersonne färbt sich rot hinter dem alten West Pier. Seine viktorianische Fassade zerbröckelt in diesem orangeroten Glanz, und wenn ich blinzle, sehe ich eine Legion von Staren aus den hohlen Augen hervorschwirren wie eine Heuschreckenplage. »Mummy«, höre ich. Ich atme scharf ein, als der pulsierende Schwarm an mir vorüberrauscht wie eine Woge. Andere Pierbesucher schnappen nach Luft und jauchzen, während die Stare ihre Flugschau vorführen, zuerst für die Zuschauer auf der Westseite, dann quer über das Publikum hinweg nach Osten. Ich fühle, wie die Sonne sich in meinen Augen spiegelt, und der kühle Wind streicht über mein seefeuchtes Gesicht. Ich werfe meinen Hut weg und schüttle mein langes Haar. Wie Botticellis Venus. Die Gischt schießt höher, und wenn ich mich über das Geländer beuge, sehe ich die Wellen träge rollend um die Pfähle des Piers lecken, als bewege sich Poseidon in seinem nassen Reich. »Mummy«, wimmert es noch einmal. Wer ist das? Wer ist das? Ich laufe über den Pier, zwischen den Planken hindurch sehe ich immer noch die Bewegungen des Wassers. Mir wird schwindlig davon, als wäre ich betrunken. Die Stare sind jetzt so viele, dass die schwarze Wolke zu einer undurchdringlichen Masse wird, die sich bläht und schrumpft wie eine am Himmel pulsierende Lunge. Ob ich ihren Herzschlag hören kann? Sie hat doch sicher einen? Da! Da-dum-da-dum-da-dum. Legion heiße ich, denn wir sind viele. Ich starre auf das dunkelrote Meer, umfasse meinen angespannten, runden Bauch und konzentriere mich.
    »Es ist wichtig«, habe ich ihm gesagt, als er flüsternd mit mir telefonierte. »Deine Enkel möchten dich sehen.« Daddy klang erstickt, leise. »Deine Mutter darf es nicht wissen«, sagte er, und wir verabredeten uns für dreizehn Uhr am Bahnhof Brighton. Ich habe es mir in den Kalender geschrieben. Ich kann mich nicht vertan haben. Er wollte mit uns im The Lanes essen, aber als er nicht kam, haben wir drei am Kiesstrand Fritten gegessen. Den Jungs hat es Spaß gemacht, die Möwen zu verscheuchen und aus dem Zeitungspapier zu essen. Als Matthew mir die Arme um den Hals legte, sagte ich, die Sonne treibe mir die Tränen in die Augen.
    Die Starenwolke atmet so tief ein wie nie zuvor und steigt zu stellaren Höhen auf. In einem mächtigen Ausatmen taucht sie unter den Pier und verschwindet. In dem Zwitschern ertrinkt jedes andere Geräusch, und ich falle auf die Knie und schaue durch eine Lücke zwischen den Planken. Unter dem Pier ist es so dunkel, dass ich mitten in dem unaufhörlichen Geschnatter nur hier und da eine verschwommene Bewegung wahrnehmen kann. Aber dann, bamm! sind sie wieder in der Luft, ein Ballon aus dunklem Nebel nimmt Kurs auf den West Pier, und dann hat sich auch der Kondensstreifen aufgelöst. Die volle Sonne zieht über den leuchtenden Horizont, blutrot und flüssig. Als ich mich zu den Kindern umdrehe, schlägt mir das Herz bis in die Ohren, und meine Haut kribbelt. Sie zappeln auf der Bank, und der Pier ist leer.
    »Habt ihr gesehen?«, rufe ich. »Habt ihr das gesehen?«
    Aber sie reiben sich nur die Augen und fangen an zu weinen. Ich sehe mich nach den Staren um, aber die sind weg. Der Pier liegt jetzt im Dunkeln; das letzte Sonnenlicht ist verschwunden. Ich gehe auf den Ausgang des Piers zu, und die beiden Jungs folgen mir und schniefen in ihre Handschuhe.
    »Wie lange noch?«, fragt der Große, und seine Hand sucht meine.
    Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher