Am Ende ist da nur Freude
ich ihn so schnell ich konnte ins Bad. Bis zu einem gewissen Grad ließ er das auch mit sich machen, aber er war sehr aufgebracht. Ich sah im Bett nach, ob vielleicht ein kleines Malheur passiert war, doch die Laken waren sauber. Im nächsten Moment hörte ich das Rufsignal des Patienten neben ihm. Ich wollte Frank nicht allein lassen, musste aber auch nach dem anderen Patienten sehen, denn es konnte ja etwas Ernstes sein. Es sah so aus, als säße Frank sicher auf der Toilette, aber ich schnallte ihn trotzdem an, damit er auf keinen Fall herunterfallen konnte.
Gerade war ich mit dem anderen Patienten fertig, da hörte ich denselben Ruf wieder: »Neiiiiiiin, »neiiiiiiin! Ich muss!«
Ich rannte wieder zu Frank, der immer noch sicher auf der Toilette saß. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich ihn kurz allein gelassen hatte, und er kam kurz ein wenig aus seiner Umnachtung heraus. Wieder schaute er zur Decke und wiederholte, dass er unbedingt gehen müsse. Ich dachte, er sei fertig auf der Toilette, deshalb löste ich die Sicherheitsgurte und machte mich bereit, ihn wieder ins Bett zu bringen.
Im selben Moment streckte er die Arme nach oben,
starrte zur Decke und wiederholte erneut: »Neiiiiin, »neiiiiin!«
»Was ist los, Frank?« Ich wusste, dass er nicht halluzinierte; er sah ganz eindeutig etwas.
»Der Tod ist zu mir gekommen«, erwiderte er schließlich. »Der Todesengel ist da.«
Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, aber ich fragte ihn: »Und ist sonst noch jemand da?«
Er sah mich verdattert an, wandte den Blick dann aber wieder zur Decke. Er legte den Kopf schräg und sagte lächelnd: »O ja, die Engel des Himmels sind ja auch da.« Mit zitternden Beinen stand er auf, ich eilte zu ihm, um ihn zu stützen. Mir fiel auf, wie leicht er sich anfühlte, weil sein ganzer Körper nach oben strebte. Frank reckte die Arme in die Luft und streckte jeden einzelnen Finger voll aus, als wollte er die Decke berühren. Dann sank er schwer in meine Arme zurück und starb.
Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Ich hatte erlebt, wie ein Mensch in einem einzigen Augenblick fast schwerelos wird und dann mit seinem ganzen Gewicht in sich zusammensinkt. Frank wurde so schwer, dass ich ihn nicht auf sein Bett heben konnte. Stattdessen setzte ich ihn vorsichtig wieder auf die Toilette und drückte den Notrufknopf, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.
Nach einiger Zeit kam die Oberschwester und überprüfte seine Vitalfunktionen. Wir stellten fest, dass er an Ort und Stelle verschieden war. Aber ich habe meiner
Vorgesetzten nie erzählt, was Frank gesagt hatte oder was meiner Meinung nach geschehen war. Ich hatte Angst, sie würde mich für verrückt halten. Außerdem war es mir peinlich zuzugeben, dass ich seine Bitte, in den Himmel zu gehen, als Bitte um Begleitung zur Toilette missverstanden hatte.
Heute, gut 30 Jahre später, fühle ich mich privilegiert, dass ich dabei sein durfte, als ein Mensch etwas erlebte, was die meisten Menschen normalerweise nicht sehen können.
Der Kuss
von Nina
Ich war Anfang 30 und seit sechs Jahren verheiratet. Mein Mann und ich hatten zwei Kinder, einen dreijährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen. Als Krankenschwester mit Jurastudium war ich erfolgreich von der Pflege am Krankenbett in die Krankenhausverwaltung aufgestiegen und arbeitete jetzt als Fachanwältin für das Gesundheitswesen. Zugleich versuchte ich, meiner Rolle als Ehefrau und Mutter gerecht zu werden.
Ich dachte, ich hätte alles, was man sich nur wünschen kann. Mein Mann war Immobilienmakler, was für uns sehr günstig war, da er seinen Tag freier einteilen konnte als ich und daher für die Kinder da war. Ich dachte wirklich, unser Familienleben sei in schönster Ordnung, wie das aller anderen auch … bis mir mein Mann eines Tages sagte, er habe sich in eine andere Frau verliebt und wolle sich scheiden lassen. (Seine Begründung war, wir hätten zu jung geheiratet und wären damals gar nicht richtig ineinander verliebt gewesen.)
Ich war überwältigt von den Gefühlen, die mit den Veränderungen in meinem Leben einhergingen. Und
nach der Scheidung hatte ich einen wahren Kraftakt zu bewältigen: Die Kinder waren in einem Hort, und ich war stärker gefordert. Auf dem Immobilienmarkt sah es nicht gerade rosig aus, und ich verdiente mehr als mein Ex-Mann. Auch finanziell war ich nun ganz allein für die Kinder verantwortlich, denn er zahlte nur unregelmäßig Unterhalt.
Mit
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