Am Ende ist da nur Freude
streicheln und ihm zarte Küsse auf die Wange geben.
Plötzlich merkte ich, dass wir in unserer kleinen Welt Besuch bekommen hatten … nicht aus einem anderen Land, sondern vom Himmel. Zunächst wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, als Bill davon sprach, es sei jemand im Zimmer. Ich hörte, wie er sagte: »Mam, ich kann gar nicht glauben, dass du da bist.« Er erzählte ihr von den Kindern und von mir, als würde er uns ihr vorstellen. Dabei war es ihm ganz egal, ob wir ihn hören konnten oder nicht. Das Erstaunlichste war, dass er dabei seine Augen auf eine bestimmte Stelle geheftet hielt. Er schaute leicht nach oben, als schwebe seine Mutter im Zimmer.
Am letzten Tag seines Lebens sprach er wieder mit seiner Mutter. Dann sah er mich an und sagte: »Komm her.« Er gab mir den leidenschaftlichsten Kuss. Er küsste mich so, wie man küsst, wenn man frisch verliebt ist, nicht wenn man stirbt. Danach sagte er seiner Mutter: »Vom
ersten Kuss an wusste ich, dass ich sie liebe.« Und mir sagte er: »Bis zum letzten Kuss liebe ich dich.« In jener Nacht entschlief er friedlich.
Ich bin nicht verrückt
von Phoebe
Ich arbeite als staatlich geprüfte Krankenschwester auf einer Palliativstation. Ich gehe schon seit vielen Jahren mit Sterbenden um, aber meine Geschichten über Visionen stammen nicht nur aus Gesprächen im Krankenhaus.
Eines Abends wollte ich meine Kinder nach einem Golfspiel gegen eine andere Schule abholen. Linda, eine andere Mutter aus der Klasse meines Sohnes, unterhielt sich mit mir darüber, wie viele Hausaufgaben die Kinder heutzutage haben. Alle Eltern sind sich sofort darüber einig, wie sehr sich die Schule im Vergleich zur eigenen Schulzeit verändert hat.
Ich wechselte das Thema und fragte sie, was sie beruflich mache.
»Ich bin Anwältin«, sagte Linda.
»Dann bezahlt man Sie also fürs Streiten«, witzelte ich. Und im selben Moment wurde mir klar, dass sie das wahrscheinlich schon öfter zu hören bekommen hatte, als sie zählen konnte.
»Genau«, sagte sie und lächelte.
»Ich hätte auch Anwältin werden sollen. Ich streite
mich den ganzen Tag mit den Ärzten!« Als ich Linda erklärte, dass ich auf einer Palliativstation arbeitete, wandte sie sich nicht ab und suchte das Weite, wie so viele Menschen. Sie wollte vielmehr wissen, ob ich schon einmal von ungewöhnlichen Dingen gehört hätte, die passieren, wenn jemand stirbt. Ich dachte daran, dass meiner Erfahrung nach Menschen umso weniger über Visionen aus der anderen Welt sprechen, je konservativer sie wirken. Linda wirkte zwar sehr reserviert, aber ich beschloss trotzdem, ganz direkt zu sein: »Ich wette, Sie wollen etwas von einem verstorbenen Angehörigen erzählen, der eine Vision hatte.«
Statt das Thema zu wechseln, sah Linda sich um, als würden wir gleich ein Geheimnis austauschen. Dann neigte sie sich zu mir und erzählte mit leiser Stimme: »Ich habe das noch niemandem erzählt. Meine Tante Rachel, bei der ich aufgewachsen bin, war 86, als sie starb. Es war früh am Morgen, und ich war die Einzige, die in dem Moment bei ihr im Zimmer war. Also, ich bin wirklich nicht verrückt, aber es war, als wäre meine Tante irgendwo zwischen dieser und der nächsten Welt – als verlasse sie die irdische Ebene und ginge anderswohin. Dann sagte sie wie aus heiterem Himmel: ›Komm, sprechen wir mit deiner Mutter.‹ Meine Mutter Juliet war vor sechs Jahren gestorben, aber Tante Rachel fing ein Gespräch mit ihr an! Ich hörte sogar, wie sie sagte: ›Ich komme nach Hause … langsam, aber sicher.‹«
Die Anwältin in ihr muss wohl gesprochen haben, als
Linda sagte: »Können Sie bestätigen, dass das, was mit meiner Tante passiert ist, auch anderen passiert?«
»Ja, das kann ich«, beruhigte ich sie.
»Nun ja«, sagte sie, »es passiert so vieles, was wir gar nicht zu schätzen wissen, bis wir bei einem Sterbenden sind. Ich bin ein sehr faktenorientierter Mensch. Es ist mein Beruf, die Wahrheit herauszufinden, und ich brauche Fakten viel eher als Gefühle. Deshalb steht dieses Erlebnis so im Gegensatz zu meiner Persönlichkeit. Ich habe wirklich keinerlei Hang zu solchen Geschichten, aber das macht sie nicht weniger wahr.«
Ich nickte, und sie fuhr fort:
»Je älter ich werde, desto tröstlicher finde ich das. Ich weiß, dass dieser Vorfall nichts mit mir, sondern allein mit meiner Tante zu tun hatte. Aber dass ich das Geschenk erfahren durfte, dabei zu sein, als jemand starb, gehört zu meinen lebensvollsten
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