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Am Ende ist da nur Freude

Am Ende ist da nur Freude

Titel: Am Ende ist da nur Freude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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der Zerstörung seiner geliebten Stadt irgendwie zurechtzukommen, und die Rennbahn war nur ein weiterer Beweis dafür, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Das darauf folgende Jahr war schwer für ihn. Damals ahnten wir noch nicht, dass das übernächste sein letztes Lebensjahr sein sollte.
    Mein Vater hatte zwar immer großen Wert auf seine Selbstständigkeit gelegt, aber nun wurde er schwächer, und seine Gesundheit ließ rasch nach. Er war sich seiner Situation bewusst und betonte: »Ich gehe auf 96 zu. So ist das eben – da ist nichts verkehrt dran.«
    Leider musste die ganze Familie bald erfahren, dass Dads Prostatakrebs, gegen den er vor 13 Jahren gekämpft hatte, wiedergekehrt war. Außerdem hatte er eine Embolie im linken Bein. Er entschied sich gegen eine Operation und weigerte sich auch, weitere invasive Tests durchführen zu lassen.
    Der Arzt diskutierte nicht mit meinem Vater und sagte nur: »Ich könnte weitere Tests machen und eine Behandlung beginnen, aber Ihr Leben neigt sich dem Ende zu. Was möchten Sie tun?«
    »Ich habe viel erlebt. So viele liebe Menschen sind gestorben, und ich weiß, dass wir nicht für immer hierbleiben können«, erwiderte Dad. »Meine Zeit ist fast um, und das kann keine Medizin der Welt ändern.«
    Fortan war mein Vater die ganze Zeit mit der Familie zusammen, und wir fuhren ihn in ganz New Orleans herum. Es war, als wolle er die Stadt noch einmal sehen, um
sie sich ins Gedächtnis einzugraben. Schließlich sagte uns der Arzt, es würde Zeit, dass unser Vater ins Hospiz ginge. Auf diesem Gebiet kannte ich mich ja aus, und ich fand es ebenfalls sinnvoll, wenn er an einem Ort wäre, an dem er gut versorgt würde.
    Nach seinem Umzug ruhte sich Dad oft aus. Außerdem war er der perfekte Patient: Er war kooperativ, fröhlich und nahm sein Schicksal an. In seinen letzten Tagen erzählte er uns unablässig Daddy-Geschichten voller Anekdoten und Lebenslektionen für seine Kinder. Es war, als wolle er all seine Weisheit an uns weitergeben, bevor er von uns ging.
    Als das Ende nahe war, war immer jemand aus der Familie bei ihm. Eines Nachts, als ich bei ihm schlief, wachte er plötzlich auf, war sehr unruhig und rief: »Gail, es wird Zeit, wir müssen gehen!«
    »Wohin?«
    »Raus! Komm, wir laufen weg – ich muss frei sein.«
    Dad bestand darauf, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich beschloss mitzumachen und sagte: »Okay, Dad, das Auto steht draußen. Und was machen wir jetzt?«
    »Hilf mir, mich aufzusetzen.«
    Ich setzte ihn im Bett auf und drehte ihn zur Seite, sodass seine Füße über den Bettrand baumelten. In dem Moment sagte er: »Liebes, ich hab dich lieb. Aber ich kann nicht mehr hierbleiben. Es wird Zeit, dass ich mich davonmache. Ist das Auto bereit?«
    »Es steht vor der Tür, Dad.«
    »Gut. Ich bin so weit. Du auch?«
    »Ähm, wohin gehen wir?«
    »Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass ich diese Reise vor mir habe und dass die Zeit gekommen ist.«
    Ich konnte nicht anders, ich musste einfach zwischen den Zeilen lesen. »Ich möchte nicht, dass du gehst, Dad«, sagte ich, sah in seine wunderschönen braunen Augen und zwinkerte meine Tränen weg.
    Er legte die Arme um mich und sagte: »Ich weiß, Liebes, aber ich muss gehen.«
    Ich klammerte mich an diesen Augenblick der Zärtlichkeit, obwohl ich große Angst hatte.
    Als sich mein Vater wieder ins Bett zurücklehnte, wusste ich nicht, was ich zu erwarten hatte. Er sagte: »Sehr bald – ich muss mich nur noch ein bisschen ausruhen. «
    Ich half ihm vorsichtig, sich wieder ins Bett zu legen. »Dad, ich glaube, ich werde nicht mir dir auf diese Reise gehen. Du wirst mir fehlen, wenn du weg bist, aber ich schaffe das.«
    »Du hast Recht, Liebes, ich kann dich nicht mitnehmen, aber ich verspreche dir, wir werden uns wiedersehen. «
    In den frühen Morgenstunden lag mein Vater im Bett und hatte die Arme zur Decke ausgestreckt; es war, als wolle er nach etwas greifen. Ich fragte mich, wen oder was er sah. War es meine Großmutter, seine Mutter? Könnte es meine Mutter gewesen sein, seine Frau, die vor einigen
Jahren gestorben war? Waren sie gekommen, um ihn für seine »Reise« abzuholen?
    Dad verschied am selben Vormittag um 9.50 Uhr. Er war 95 Jahre alt. Ich glaube, er hat seine Reise in die Ewigkeit angetreten.
     
     
    Nach diesen Geschichten war ich noch fester davon überzeugt, dass wir eine Schwelle überschreiten, wenn wir sterben: Eine symbolische Reise findet ihren Abschluss, und

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